Misshandlung in Weckhoven: Verdächtiger ist vorbestraft
Der elfjährige Junge schwebt nach wie vor in Lebensgefahr. Das Jugendamt steht in der Kritik.
Neuss. Die weibliche Stimme am anderen Ende der Gegensprechanlage braucht zwei Sekunden, um zu antworten. „Ich möchte Sie heute nicht mehr reinlassen“, rauscht es aus den Lautsprechern. Es ist die Ehefrau von Sven F. — jenem 41-Jährigen, der derzeit in Untersuchungshaft sitzt und im Verdacht steht, seinen elf Jahre alten Neffen so schwer verletzt zu haben, dass dieser in der Düsseldorfer Uniklinik mit dem Tod ringt.
Noch am Samstag bat der mutmaßliche Täter selbst zum Gespräch in die Familienwohnung und berichtete, sein Neffe sei vor rund zehn Wochen zu ihm nach Weckhoven gezogen. Die Tat selbst bestritt er da noch — Stunden später klickten die Handschellen.
Jetzt wurde auch bekannt: Sven F. saß bereits wegen gefährlicher Körperverletzung im Gefängnis, wie Staatsanwalt Martin Stücker bestätigte. Zwar habe der Kaarster eingeräumt, seinem Neffen die lebensgefährlichen Verletzungen zugefügt zu haben. „Wir ermitteln jedoch weiter, um herauszufinden, woher die Verletzungen aus den Tagen zuvor stammen“, sagt Stücker.
Auch die Tante des Jungen, die nach Angaben von Sven F. am Donnerstag um 13.08 Uhr den Notruf gewählt haben soll, steht im Fokus der Ermittler. Über ein mögliches Strafmaß könne die Staatsanwaltschaft aktuell „keine seriösen Auskünfte geben“.
Ein elf Jahre alter Junge zieht bei seinem vorbestraften Onkel ein, lebt mit dessen Frau und sechs weiteren Kindern unter einem Dach. Zuvor lebte er vier Jahre lang bei seinen Großeltern in Kaarst. Diese sind jedoch so schwer erkrankt, dass sie sich nicht mehr um den Jungen kümmern können. Eine Ehrenamtlerin aus Kaarst, die namentlich nicht genannt werden möchte, gibt an, seit 40 Jahren mit der Familie F. zu tun zu haben. Auch den fast zu Tode misshandelten Jungen habe sie während ihrer Arbeit im vergangenen Jahr kennengelernt. „Ein kluges Kind, aber sehr unkonzentriert“, sagt die Frau. Scharfe Kritik äußert sie am Jugendamt. „Diese äußerst problematische Großfamilie ist dem Jugendamt bekannt“, sagt sie und fragt: „Wie kann es sein, dass der Junge bei so einem Mann einziehen kann?“
Die Kaarsterin, die angibt, dass der geständige Sven F. mit fünf Geschwistern in Kaarst aufwuchs, möchte sich nun mit einem Brief an die Stadt Neuss wenden. Auch Karin Kilb, die CDU-Stadtverordnete für Weckhoven, gab an, umgehend das Jugendamt kontaktieren zu wollen. Sie verstehe auch nicht, sagt Kilb, dass die Schule nichts gemerkt habe.
Die Stadt Neuss hält sich mit Informationen zu dem Fall zurück. Bürgermeister Reiner Breuer drückt zwar sein tiefes Bedauern aus, er äußere sich jedoch nicht zu den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. „Wir sind als Stadt bemüht, im Kreis der Familie und Betroffenen die Dinge zu tun, die wir tun können. Wir versuchen, die Tatumstände zu erhellen und im Sinne der betroffenen Kinder und der Familie zu handeln“, sagt der Verwaltungschef. Zunächst gelte es jedoch, den Sachverhalt vollständig zu erfassen.
Ehrenamtlerin, die seit 40 Jahren mit der Familie F. zu tun hat
Nach Angaben von Sebastian Semmler, Jugenddezernent der Stadt Kaarst, ist der Junge noch immer in Kaarst gemeldet. Darüber, dass er vor rund zehn Wochen zu seinem Onkel nach Weckhoven zog, seien die Behörden nicht informiert gewesen. Grundsätzlich sei die Familie des Jungen aber als problematisch einzustufen und „stadtbekannt“. Der lebensgefährlich verletzte Junge sei in der Vergangenheit aber nicht auffällig gewesen und somit auch nicht betreut worden. „Grundsätzlich sind wir an der Familie aber nah dran“, sagt der Beigeordnete, der angibt, der Elfjährige habe im Rahmen des Sorgerechtsstreits seiner Eltern damals den Wunsch geäußert, bei seinen Großeltern zu leben.
Auch der Leiter der Schule, die der Junge besucht, sagt, dass der Junge „ein ganz normaler Schüler“ sei. „Sonst wären wir da als Schule auch aktiv geworden“, versichert er. Sowohl Lehrer als auch Schüler seien geschockt über die Tat — gemeinsam beschäftige man sich gerade mit der emotionalen Aufarbeitung.
Deutlich schockiert waren auch die Rettungskräfte der Wache Süd, die den Jungen am Donnerstag reanimierten. Selbst erfahrene Sanitäter hätten einen solchen Anblick noch nicht aushalten müssen, erklärt Marc Dietrich, Geschäftsführer des DRK in Neuss. Er hatte die Helfer direkt nach dem Einsatz angesprochen, weil sie so angegriffen wirkten, doch habe die Besatzung nicht über den Einsatz reden wollen. Psychologische Hilfe lehnten sie ab.
Auf Weisung der Polizei ist das DRK nun dabei, ganze Aktenordner voller Einsatzprotokolle neu zu sichten, die nicht digitalisiert wurden. Das soll bei der Klärung der Frage helfen, ob die Sanitäter schon früher zu Einsätzen in dieser Familie gerufen wurden, sagt Dietrich.