Mit Googles Brille durch Neuss
Wie hilfreich ist die Datenbrille im Alltag und wie reagieren Passanten auf die moderne Technik?
Neuss. Der Verkäuferin fällt das Brötchen aus der Hand, als ich ihren Laden betrete. „Ach du lieber Gott“, entfährt es ihr. Dabei möchte ich doch nur ein belegtes Schnittchen kaufen. Nur bin ich nicht wie jeder andere Kunde. Ich trage etwas auf der Nase, was in Neuss und in Deutschland überhaupt in etwa so weit verbreitet ist wie Gold im Rhein: Google Glass. Ein Rundgang durch die Neusser Innenstadt mit der Datenbrille auf der Nase, die das Technologie-Unternehmen 3M als eines der wenigen in Deutschland überhaupt zur Verfügung hat.
Mein Begleiter Jannik Werkmeister von 3M und ich starten auf dem Marktplatz. Nach einiger noch etwas umständlichen Frickelei mit unseren Smartphones ist die Brille mit dem Internet verbunden. Und sollte eigentlich bereit sein, uns Neuss zu zeigen, wie wir es noch nie gesehen haben: Die Realität verschmilzt in unserem Auge mit der virtuellen Ergänzung aus dem Daten-Gucker.
Als Erstes möchte ich ein Foto vom Rathaus haben. Als ich es der Brille mit dem Satz „Ok Glass, mach ein Foto!“ befehle, tut sich — nichts. Das Gerät hört nur auf englische Anweisungen, erklärt mir mein Begleiter. Also: „Ok Glass, take a picture!“ So funktioniert’s einwandfrei.
Aber ich will nicht nur Bilder machen, das Ding kann noch viel mehr. Zum Beispiel navigieren. Ich befehle der Brille: „Ok Glass, take me to Düsseldorf Königsallee.“ Das Smartphone in meiner Hosentasche berechnet die Route und überträgt es per Funk an die Brille. Es dauert ein paar Sekunden, da erscheint die erste Routenanweisung. Und die Computerstimme in der Brille befiehlt: „Turn right into Oberstraße!“ Also nach rechts abbiegen bitte. Warum auch nicht? Zu Fuß vom Neusser Markt bis zur Kö sind es immerhin eine Stunde und 35 Minuten.
Die Navigation funktioniert sehr ordentlich und ist schon ziemlich praktisch. Ich kann durch die Straßen laufen, ohne ständig auf mein Telefon oder einen Stadtplan schauen zu müssen. Die Brille zeigt mir mit Pfeilen an, wo es langgeht.
Der nächste Test vor dem Quirinus-Münster: Die Brille kann mir auf Nachfrage auch erklären, was ich gerade sehe. Angeblich. Ich frage: „Ok Glass, what is the Münster?“ Google schlägt im Internet nach, dann erscheint die englische Antwort auf dem Display, wieder liest mir der Computer alles vor. Auf weitere Nachfragen zu Neuss oder das Quirinus-Münster reagiert die Brille aber nicht. Ausbaufähig, denke ich, und wage mich an den nächsten, spannendesten Test unseres Datenbrillen-Versuchs: Wie reagieren eigentlich die anderen Leute?
Woanders wurde Testern das Gerät von der Nase gehauen, hat die Kamera am Auge die Angst vorm permanenten Gefilmtwerden in Wut umschlagen lassen. Und der Suchmaschinenkonzern genießt ohnehin ähnlich großes Vertrauen beim deutschen Verbraucher wie verurteilte Heiratsschwindler.
Die Fußgänger in der Neusser Innenstadt sind weniger direkt. Sie schauen fast alle mit einem gepflegten Sicherheitsabstand oder im Vorbeigehen auf das Gerät vor meinem Auge. Sie starren irritiert aus dem Augenwinkel, wie man es in einer anonymen Fußgängerzone sonst eigentlich nicht macht. Sie starren hin, aber schauen zugleich auch angestrengt weg. Wollen nicht ertappt werden. Die Verkäuferin in der Bäckerei ist irritiert, gibt sie zu. Die Buchhändlerin ein paar Geschäfte weiter schaut kaum auf das Gerät vor meinem Auge, als sie mir den Weg zur Krimiecke erklärt. Später erklärt sie: „Ich dachte, Sie hätten vielleicht eine Sehbehinderung.“ Und die Frau im Bürgerservice im Rathaus vermutet, ich hätte eine Lupe vor meinem Auge. In zwei Fragen lassen sich die meisten Reaktionen zusammenfassen: Datenbrille? Häh? Die Zukunft — so fern.
Nach knapp zwei Stunden meldet sich die Datenbrille mit fast leerem Akku. Also frage ich einen Passanten direkt: „Darf ich Sie mit meiner Datenbrille fotografieren?“ Der Mann hält sich die Hand vor das Gesicht, ruft „Nein!“, und flüchtet hastig ins nächste Geschäft. Ein Raucher nebenan sieht das, tippt mir auf die Schulter, und ranzt mich an: „Haben Sie dafür ’ne Genehmigung?“
Gute Frage. Google?