So sieht ein Engländer die Stadt
Sebastien Ash ist zum ersten Mal in Neuss. Er erzählt von seinem Eindruck von der Stadt. Sein Fazit: sehr gepflegt und typisch deutsch.
Neuss. Es gibt wenige Bahnhöfe in Deutschland, die einen guten ersten Eindruck machen — und der Neusser ist keiner von diesen. Es sei denn, man ist sehnsüchtig nach der Zeit des Kalten Krieges oder suhlt sich gerne in Melancholie. Ich spreche natürlich aus einem ausländischen Blickwinkel, und zwar einem englischen.
In der Vorstellung der Briten geht es in Deutschland hauptsächlich um Elfmeterschießen und Biertrinken. Darum kommt auch kaum ein Engländer auf die Idee, Urlaub in Deutschland zu machen. Außer in diesen Wochen. Denn jetzt ist die Zeit des Weihnachtsmarkts — und mit Glühwein und Bier haben auch wir keine Probleme. Also werfe ich mal einen Blick in die Stadt, um herauszufinden, was Neuss einem Engländer bieten kann.
„Schauen Sie sich das Münster mal an“, ist die Empfehlung, die mir die meisten geben. Die Neusser scheinen freundlich und hilfsbereit zu sein, aber ihre Vorschläge sind im Durchschnitt nicht die allerbesten. Für den Spott-Preis von 50 Cent kaufe ich mir daher eine Stadtbroschüre im Fremdenverkehrsbüro. Darin stehen eine Stadtkarte und der Fahrplan eines Besuchs mit der Beschreibung „34 sehenswerte Stationen“ — inklusive Münster. Das Münster ist zwar schön, aber Kirchen habe ich schon viele gesehen. Ich will nicht das entdecken, was vor meiner Nase steht. Ich bin auf der Suche nach Geheimtipps, kleinen Details, die für mich als Ausländer Neuss interessant und besuchenswert machen.
Ein Tipp ist jedoch wertvoll: „Nach oben gucken“, sagt mir die Frau vom Fremdenverkehrsbüro. Das, was mir am meisten an Neuss gefallen soll, liegt anscheinend nicht auf Augenhöhe.
Die Auswahl der Geschäfte im Stadtzentrum kann sich sehen lassen — und der Geruch aus den kleinen schönen Bäckereien würde ausreichen, um die Aufmerksamkeit von Touristen auf sich zu ziehen. Aber wenn ich nach oben schaue, sehe ich eine große Brezel. Kitschig, aber trotzdem schön — und einfach typisch Deutsch für einen Engländer. Auffallend sind auch die Gebäude, an denen Schilder angebracht wurden, die an die Vergangenheit des alten Gemäuers erinnern. Die klassischen teutonischen Schriften an den alten Kneipen entsprechen ebenso meinen Erwartungen.
Auch im Hafen muss ich nach oben gucken, um die Größe der Gebäude in Gänze zu erfassen. Einige junge Künstler haben die Kräne mit klugen Sätzen bemalt, deren Optik in die Ästhetik der Umgebung passt. Als Engländer verbindet man Deutschland mit Industriegebieten. Der Hafen kommt diesem Klischee sehr nah.
Für einen Briten bietet sich an der Friedrichstraße ein ungewohnter Anblick: Die alten Häuser sind auffällig sauber. In England ist Authentizität mit Schmutz gleichzusetzen. Die Häuser sehen oft verkommen aus, als hätte man sich Jahrzehnte lang nicht um sie gekümmert. Aber in Deutschland wirken sie sehr gepflegt und bunt gestrichen — wie auf einer Postkarte aus dem 19. Jahrhundert.
Auf meinem Weg nach Hause wage ich auch einen Blick in die Marienkirche neben dem Bahnhof. Ich schaue wieder nach oben, wie die Frau von Neuss Marketing mir riet. Versteckt in den Bleiglasfenstern, unter Bildern der Bibelgeschichte, sind Panzer, Soldaten und überall Explosionen zu sehen. Diese Mischung zwischen himmlisch und menschlich ist unerwartet, aber faszinierend. Sie zeigt nicht das formale Gesicht der Stadt, sondern gibt kleine Einblicke in die Vergangenheit einer typisch deutschen Stadt, die im Vergleich zu englischen Kommunen einen sehr gepflegten Eindruck macht — okay, bis auf den Bahnhof.