Schauspielhaus eröffnet Spielzeit mit Willi-Fährmann-Stück Mäuse-Rudel auf dem Gründgens-Platz
Das Düsseldorfer Schauspielhaus eröffnet mit „Der überaus starke Willibald“ seine Spielzeit. Eine grandiose Inszenierung der Jugend-Geschichte von Autor Willi Fährmann.
Das dürfte wohl die bislang eigensinnigste Spielzeiteröffnung am Schauspielhaus gewesen sein. Mit einem Mäusesstück! Und für Kinder ab sechs. Noch dazu draußen, gleich vor dem strahlend-renovierten Schauspielhaus. Also kein Foyer-Sekt mit bildungsbürgerlicher Stadtspitze, kein Shakespeare von Starregisseur, stattdessen Willi Fährmanns Parabel vom überaus starken Willibald. Doch für diesen sommerlichen Abend, für unsere Zeit und viele unserer Fragen hätte man kaum eine glücklichere Wahl treffen können.
Und wohl auch keinen besseren Ort. Dass der Gründgens-Platz zur Bühne wird und die Mäuse in der Stadt rumwuseln und somit unter uns, gibt dem Spiel noch mehr Dringlichkeit, noch mehr Nähe. Das Rudel ist bei uns, ihre Sorgen können unsere sein. Und davon gibt es bald reichlich. Denn das schöne Leben im grauen Haus findet ein abruptes Ende, als Lillimaus bei den nächtlichen Streifzügen durch alle paradiesischen Speisekammern dieser Welt entdeckt, dass die Küchentür zum Garten einen Spalt offensteht. Dort – das wissen alle – ist die getigerte Katze. Es reicht das Wort Katze, um im Rudel ein kollektives Zucken auszulösen. Furcht und Schrecken machen sich breit, und schuld ist Lillimaus, die als Albino auch noch anders aussieht. Ein gefundenes Fressen also für Willibald, der sich mit Unterstützung einiger Anhänger zum Boss ausruft, Lillimaus ausgrenzt und den anderen bald Gehorsam lehrt. „Ein Boss, ein Haus, ein Rudel“ lautet die Devise.
Spätestens diese Anlehnung an die Nazi-Diktion raubt dem tierischen Rudelkampf seine Unschuld. Willi Fährmann zeigt mit der Mäusewelt, was Diktatur heißt, wie sie entsteht, wie sie ihre Macht erhält, was aus ihr folgt. Die Geschichte ist George Orwells „Animal Farm“ im Mäuseformat. Beinahe 40 Jahre alt ist Fährmanns Geschichte. Doch gute Parabeln veralten nicht. Das ist ihre Kraft und ihr Schrecken zugleich, weil das, wovon sie berichten, immer noch in den Köpfen rumort und in der Welt weiterhin sein Wesen treibt.
Die Mäuse haben unter Willibald bald nichts mehr zu lachen. Nachts werden ihnen Zimmer zugeteilt, und Lillimaus wird das vermeintlich schrecklichste gegeben: die Bibliothek. Aus purer Langeweile beginn sie mit dem Buchstabieren – also P wie Popel -, lernt schließlich Wörter und bald Sätze zu entziffern. Die Welt der kleinen weißen Maus wird immer größer, immer bunter und immer einsichtiger. Sie liest etwas über Napoleon und über einen Landvogt, der das Leben von Tell zur Hölle macht, und merkt bald, dass Willibald einer dieser schlimmen Nachfolger sein muss.
Unterdessen hat Willibald andere Sorgen. Seinem Rudel immer nur das Himmelreich zu versprechen – wie die unerreichbar von der Decke baumelnden Würste – reicht irgendwann nicht mehr aus. Auch die Katze, die noch nie einer gesehen hat, verliert an Bedrohungspotenzial.
Der Bau eines Turms aus Bauklötzen hoch hinauf zu den Würsten scheitert kläglich und fordert Opfer. „Flink wie Fledermäuse, hart wie Tirolerbrot, zäh wie Schweineschwarte“ lautete einst die Parole des Rudels. Davon bleibt nicht mehr viel übrig. Und als eines Nachts ein großes Stück Räucherspeck auf einem Brettchen greifbar ist, rettet Lillibald allen das Leben, weil sie den Zettel mit der Gebrauchsanweisung für die Mausefalle lesen kann. Das ist der Anfang vom Ende von Mäuseboss und Mäusediktatur.
Natürlich ist diese Geschichte moralisch mächtig aufgeladen: Lesen macht klug und wird zur geistigen Grundlage von Widerstand. Die Vernunft siegt. Die Gerechtigkeit triumphiert. Ende gut, alles gut? Na, nicht ganz. Denn dafür ist die mit einigen Liedern fein garnierte Inszenierung in der Regie von Robert Gerloff zu clever. So sind die Mäuse zwar nett, manchmal witzig, aber eben auch frech, egoistisch, gefräßig, nicht immer niedlich. Dass sie nicht vorbehaltlos Sympathieträger sind, verdanken sie auch den unglaublichen Kostümen von Cátia Palminha. In Kaffeesäcken gewandet, sind sie eher eine Art Lumpenpack. Grandios auch ihre Masken, die sie schräg auf den Köpfen sitzen haben. Schauen sie geradeaus, blickt man in die Gesichter der Schauspieler. Doch sie müssen nur leicht ihren Kopf senken, um die Mäuse-Illusion perfekt zu machen. Wer sein Haupt senkt, wird Maus und nimmt die Haltung des Untertans an. Es reicht dazu eine kleinere Kopfbewegung; auch das kann einem zu denken geben.
Nach den am Ende siegenden Rudelgesetzen verdienen es alle Mäuse, gleichberechtigt genannt zu werden: also Natalie Hanslik als starker Willibald, Eva Maria Schindele als lesende Lillimaus, Eduard Lind als dicke Hermannmaus, Jonathan Gyles als Mäusejosef und Noëmi Krausz in der Doppelrolle von Mäusephilipp und Mäusefriederike. Geschmeidig, tollpatschig und meist fluchtbereit bewegen sie sich durchs Bühnenbild, das mit riesigen rostigen Konservendosen sparsam, aber effektvoll gestaltet ist. Und wenn Hermannmaus bei einer Flucht sehr weit im Hintergrund scheinbar an die Wand des Schauspielhauses uriniert, darf das fast als ein subversiver Akt verstanden werden.
Übrigens rätseln auch die Mäuse irgendwann darüber, was eigentlich dieses „subversiv“ bedeutet. Egal, die Spielzeit ist subversiv mit Mäusen eröffnet worden. Und wenn Stefan Fischer-Fels, Leiter des Jungen Schauspiels, zur Begrüßung ausruft: „Wir sind wieder da!“, so war das eine Proklamation der Befreiung. Bis zur nächsten Premiere Mitte September dauert es jetzt noch einige Zeit. Und vorher kommt noch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die am 8. September im Großen Haus mit Chimamanda Ngozi Adichie diskutieren wird. Den Vortritt aber haben jetzt die Mäuse bekommen, haben der starke Willibald und die noch stärkere Lillimaus und mit ihnen die jungen Theaterfans. Auch das darf man als Bekenntnis deuten.