Stadtjubiläum Wuppertal Blaubart - über Pina Bauschs Welt

Der ehemalige Kulturdezernent Heinz Theodor Jüchter erinnert sich an die Aufführung, die ein begeisterndes wie verstörendes Schlüsselerlebnis wurde.

Eine Szene aus dem Pina Bausch-Stück „Blaubart“.

Foto: Günter krings/Günter Krings

Am Abend des 8.Januar 1979 gab es Im Barmer Opernhaus eine Premiere des Tanztheaters Pina Bausch, als Uraufführung. Das Publikum war entsprechend neugierig. Man sah auch skeptische Gesichter, hatte zwar von dem neuen Tanztheater gehört, aber war vorgewarnt. Der „Tanzabend“ sei rätselhaft und ungewöhnlich, zudem keineswegs „klassisches Ballett“. Es werde nur noch wenig getanzt, dafür über die Bühne gerannt, oft nur gesprochen, sogar laut geschrieen. Treue Abonnenten vermissten jedenfalls die choreographierte Oper mit edlen Posen und „schönen Kostümen“. Bald gab es aber andere Theaterbesucher, die gerade deshalb den Weg ins Barmer Opernhaus gefunden hatten, weil sie von neuen Formen eines Tanztheaters gehört hatten, neuartig, unkonventionell, aber aufregend.

Für mich war es zwar nicht mein allererster Tanzabend von Pina Bausch, aber „Blaubart“ wurde zu einem Schlüsselerlebnis, begeisternd und verstörend gleichermaßen. „Blaubart“ (zur Musik von Bela Bartok) wurde später eines ihrer erfolgreichsten Stücke (in Wuppertal und auch überregional oft wiederholt - ich selbst sah „Blaubart“ nacheinander sogar mehrfach). Es geht in Bartoks Oper um die Geschichte von Herzog Blaubart und seinem „Opfer“ Judith, deren Tod (wie dem von sechs anderen Frauen) hinter einer von sieben Türen auf sie wartete. Es war also ihr letzter Kampf.

Diese Geschichte wurde aber nicht wirklich erzählt, sondern man sah „Tanzszenen“ und Ensembles, in denen fast alle Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles mitspielten, sie wurden im Wechsel selbst zu Blaubart und Judith. Und ihre Szenen wurden oft wiederholt („bis an die Grenzen der Erträglichkeit“, las man in Kritiken). Auffallend war auch, dass man Bartoks Musik nur stückweise hörte, abgespielt von einem Tonbandgerät auf Rollen, das vom Darsteller des Blaubart über die Bühne geschoben und immer wieder angehalten wurde. Man hörte Bartoks Oper nicht etwa als Gesamtkomposition aus dem Orchestergraben, sondern stückweise vom Tonband (und im Theater hatte man schon von einem Protest des GMD zu dieser „gestückelten“ Musik gehört).

Das gesamte Ensemble des Tanztheaters war zumeist in ständiger Bewegung. Es jagte über die Bühne, stieg die Wände hoch, lief oder kroch über den Bühnenboden, kreischte und lachte, suchte zwischendurch aber auch nach Schutz voreinander. Man erlebte ein Wechselbad der Gefühle: die Sehnsucht nach Liebe und „zärtlicher Gewalt“, die Suche nach Halt und Ruhepausen (in einer Fensternische oder an der Wand). Vor allem die Tänzerinnen wurden immer wieder abgestoßen, wollten sich an anderen festhalten, rutschten aber am Partner wieder ab.

Diesen Kampf der Geschlechter und die damit verbundenen Gefühle sollte das Publikum auch mitbekommen, sollte die Hilflosigkeit der Menschen auf der Bühne spüren, auch ihre verzweifelte Flucht in Konventionen oder Aggressionen. Das wurde sogar zum Muster bei Pina Bausch (auch bei ihren weiteren „Stücken“). Die Tänzerinnen und Tänzer wollten und sollten ihre Ängste und Verletzungen dem Publikum zeigen, es sollte diese nachempfinden, sogar mitleiden. Wer aufmerksam zusah, sollte selbst betroffen sein. Pina Bausch und ihre Tänzerinnen/Tänzer wollten direkt mit dem Publikum kommunizieren. „Gucken Sie einfach“ hatte Pina dem Publikum ihres Tanztheaters immer wieder geraten. Nicht die Bewegung war wichtig, sondern „das, was die Menschen bewegt“.

Braunes Laub, das bereits verwelkt war, bedeckte den Bühnenboden, zeigte Spuren der Tänze. Die Männer gefielen sich in Bodybuilding-Posen, die Frauen wedelten mit ihren langen Haaren, zeigten dadurch ihre eigene Macht, stellten sich gegen die Männer auf, erhielten aber wenig eigene Chancen, Blaubart zerrte Judith über den Boden, vergewaltigte sie, stapelte zwei-drei Frauen übereinander, zog ihr nacheinander mehrere Kleider an. Ihr Weg zur siebten Tür war bereitet.

„Blaubart“ war zweifellos ein radikales Stück und machte es dem Publikum nicht leicht (wie frühere und spätere Stücke), die noch klare Geschichten erzählten, oft auch viele kleine Geschichten. Die vorherigen Pina Bausch-Abende seit ihrem Start im Jahre 1974 waren zwar nicht konventionelles „Ballett“ gewesen, aber doch „klassischer“: zwei Tanzopern zur Musik von Christoph Willibald Gluck, „Le sacre du printemps“ von Igor Strawinsky, ein „unterhaltsamer“ Brecht-Weill-Abend „Die sieben Todsünden“.

Auch das war nicht mehr das klassische Ballett, das man vom (durchaus gerühmten) Vorgänger-Ensemble der Wuppertaler Bühnen gewohnt war. Aber bei „Blaubart“ schlug „Zärtlichkeit in Gewalt“ um und das Tanzpublikum reagierte darauf zwiespältig. Schon bei den Premieren gab es Buh-Rufe und laut klappende Türen. Manche schrieben nachher böse Leserbriefe, auch an Mitglieder des Ensembles und an den Intendanten. Die überregionale und lokale Kritik war oft ratlos. Es gab auch böse Verrisse.

Aber bald setzte der internationale Erfolg ein, erst recht nach den ersten Gastspielen (von Belgrad bis Paris), auch das Wuppertaler Publikum kam zurück, das ältere Publikum schickte Kinder und Enkel, man jubelte zunehmend euphorisch mit stehenden Ovationen. Die Ehrlichkeit dieses Theaters faszinierte („es zeigt Menschen, wie sie sind und nicht wie sie sein sollten“, schrieb Norbert Servos), man erkannte das „Tanzen gegen die Angst“ (so Jochen Schmidt) – und bald waren nicht nur die Wuppertaler Aufführungen oft ausverkauft. Es ist schade, dass „Blaubart“ aus urheberrechtlichen Gründen zur Zeit noch nicht wieder gezeigt werden kann. Es wäre auch für das heutige Publikum eine „Lehrstunde“.