Bergische Universität Dem Gedrängel auf der Spur: Uni forscht zu Fußgängerströmen

Prof. Dr. Armin Seyfried untersucht das Verhalten von Menschen, die in einem Stau vor einem Einlass stehen.

Durch Corona rücken Massenveranstaltungen in den Hintergrund, jedoch spielt Sicherheit im Fußgängerverkehr ebenfalls eine wichtige Rolle.

Foto: dpa/Caroline Seidel

Wer kennt das nicht: Man hat eine Reise geplant und steht in einer überfüllten Bahnhofshalle, umgeben von Menschen, die vor, hinter und um einen herumlaufen, auf der Suche nach einer Fahrkarte, einer Zeitschrift, einem Snack, einer Auskunft oder dem richtigen Gleis. Zu Stoßzeiten kann das zu einer Tour de Force werden, die sich am Gleis durch zusätzliche Ein- und Aussteiger noch einmal steigert.

Um diesem Phänomen entgegenzuwirken forscht der Wuppertaler Physiker Prof. Dr. Armin Seyfried in seinem Lehr- und Forschungsgebiet Computersimulation für Brandschutz und Fußgängerverkehr an der Dynamik von Fußgängerströmen. „Ganz einfach ausgedrückt, geht es um Stauforschung in Fußgängerströmen“, sagt der gebürtige Erlenbacher.

Diese Stauungen treten sowohl im öffentlichen Nah- und Fernverkehr auf, als auch bei Großveranstaltungen, wo es darum geht, in relativ kurzer Zeit, mehrere tausend Menschen sicher zu einem Veranstaltungsort zu leiten. „Wenn wir eine Veranstaltung organisieren wollen, bei der 10 000 Personen kommen, dann muss man gucken, wie man die in den Veranstaltungsraum hinein- und wieder herausbekommt. Die Frage, die sich dann stellt ist: Wann kommt es zu einem Stau? Wir entwickeln Methoden, dieses System oder diesen Stau vorhersagen und abschätzen zu können, wie lange die Einlasszeiten sind.“ Zwar gäbe es schon Erfahrungswerte, „doch die Love Parade in Duisburg hat uns verdeutlicht, dass unser Wissen nicht ausreicht.“

Durch die Pandemie rücken Massenveranstaltungen augenblicklich in den Hintergrund, doch auch im städtischen Bereich spielen Sicherheitsvorkehrungen im Fußgängerverkehr eine wichtige Rolle. Zwar sei der öffentliche Nahverkehr durch viele in Homeoffice arbeitende Menschen nicht so belastet wie vor Corona, doch man müsse konstatieren, dass die Bahnhöfe bis März stellenweise vollständig überlastet gewesen seien. Und das gelte auch für den Hauptbahnhof in Wuppertal.

„Wenn der Bahnhof unter Volllast fährt und dann solche Bauarbeiten hat, wie sie jetzt momentan anstehen, mit dem Tunnel als zentrales Element, dann kann man sich denken, was Stau im Normalfall bedeutet. Wenn man sich dann aktuell noch unseren Bahnsteig fünf ansieht, der lediglich über die Treppe nach oben erreichbar ist und überlegt, welche Konsequenz das Erreichen des Gleises zu Stoßzeiten vor Corona gehabt hätte, hat das Leiten von Fußgängerströmen eine sehr wichtige Funktion.“

In Kooperation mit dem Forschungszentrum Jülich stellte sein Lehr- und Forschungsgebiet in den Messehallen in Düsseldorf mit 1000 Probanden einen Kreuzungsstrom nach. Unter der Beteiligung von 50 Wissenschaftlern und Helfern, mit einem Netzwerk von 24 Kameras wurde das Experiment an fünf Tagen unter verschiedenen Bedingungen aufgezeichnet, um herauszufinden, wann es zu einem Stau kommt. Da es keine Standards gibt, nach denen man vorgehen kann, entwickelt Seyfried mit seinem Team auch neue Auswertungsmethoden. „Die Auswertung läuft noch heute und wir lernen immer wieder dazu, weil es ein kompliziertes System ist. Jedes Bild musste aneinandergeklebt und ausgewertet werden.“

In Wuppertal experimentierte Seyfried gemeinsam mit Dr. Anna Sieben von der Ruhr-Universität zum Verhalten von Menschen, die in einem Stau vor einem Einlass stehen. „Wir haben zum ersten Mal Experimente mit einer Sozialpsychologin durchgeführt. Wir als Verkehrsforscher sind eher an den Fakten interessiert, also wie viel Platz der Fußgänger braucht sowie dessen bestimmte Geschwindigkeit. Aber Fußgänger zeichnen sich natürlich auch durch unterschiedliches Verhalten aus.“

Die Frage, wann wir in einem Stau vor einem Einlass zu drängeln beginnen ist dabei eine andere, als die nach dem Beginn eines Staus. Seyfried simuliert verschiedene Warteschlangensysteme und variiert die Breite der geordneten Reihen, um zu sehen, wie sich das auf das Drängelverhalten auswirkt. „Es gibt noch viele andere Faktoren. Alles, was uns ausmacht, Alter, Geschlecht, Größe, Fan oder kein Fan, das Wetter – alles spielt eine Rolle“, erklärt er, aber „das kann man nicht gleichzeitig untersuchen. Wir müssen das System beschränken und einschneiden.“

Für die Computersimulationen benötigt er einen Supercomputer und arbeitet dabei eng mit dem Institute für Advanced Simulation am Forschungszentrum Jülich zusammen. „In Jülich gibt es eine Gruppe, die sich mit der Modellierung und der Simulation von Menschenströmen beschäftigt“ erklärt er, und da ein Computermodell nur so gut sein könne, wie die ermittelten Experimentiererfahrungen, basieren die in Jülich simulierten Modelle auf den erarbeiteten Experimenten der Wuppertaler. „Es geht also darum, dem Computerprogramm beizubringen, wie aus einem Nichtdrängler ein Drängler wird. Diese Parameter bekommen wir durch das Experiment raus und die Modellierer in Jülich überlegen dann, wie sie das in ein mathematisches Modell übertragen, das dann vom Computer zu berechnen ist.“ So entstünden konstruierte Werkzeuge, die einem Planer einer Großveranstaltung es ermöglichten, einen Stau vorherzusagen. Darüber hinaus arbeite zusätzlich eine Gruppe in Jülich mit Sensoren, die Videodaten aus den Experimenten präzise in Laufwege übersetzten.

Mit der Übersetzung von Videodaten in unpersonifizierte Laufwegeermittlungen beschäftigt sich auch Seyfrieds aktuelles Projekt mit dem Titel „Crowd Management in Verkehrsinfrastrukturen“. In Kooperation mit der Deutschen sowie der Schweizerischen Bundesbahn erklärt der Forscher, „ist diese Kooperation sehr vielfältig. In der Entwicklung befinden sich an manchen Bahnhöfen Videokameraanlagen, die kein Bild, sondern die Laufwege der Personen detektieren. Wir nutzen diese Daten, um zu ermitteln, wann ein Bahnhof noch funktioniert und wann er nicht mehr sicher ist, entwickeln Prozesse, die die Qualität des Wartens und Ein- und Aussteigens bemessen.“

Aus Erfahrung wisse jeder, dass gerade Plätze nahe der Treppen bevorzugte Warteorte seien. Da könne man dann überlegen, wie man einen Bahnsteig umgestalten könne, um diese Situationen zu entzerren. „Attraktive Warteflächen etwas entfernter vom Ballungspunkt anzulegen, Fahrplaninformationen weg von Wartezonen zu hinterlegen oder aber an hochfrequentierten Bereichen keine Mülleimer zu positionieren“, zählt er auf, seien auch finanziell machbare Möglichkeiten, die mit der Deutschen Bahn diskutiert würden.

„Es gibt Bahnsteige in Frankfurt, die sind mittlerweile leer. Da gibt es keine Sitzplätze mehr, weil sie wissen, dass es sonst nicht funktioniert. Und wir begleiten sie dabei wissenschaftlich.“ Auch interessant sind sogenannte Befüllungsanzeiger an den Infotafeln im Gleisbereich, die augenblicklich getestet werden. Darauf können Reisende vor der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof erfahren, welcher Waggon besonders stark belegt ist und bereits im Vorfeld sich für einen anderen Wagen entscheiden.