Gastbeitrag Der Elberfelder Junge vom Elendstal

Gastbeitrag Michael Kroemer wuchs mit der Adresse „Am Elend“ auf – eine wahre Idylle.

Das Elternhaus im Elendstal.

Foto: Kroemer/Michael Kroemer

Ich war ein miserabler Schüler und hatte nur Blödsinn im Kopf, war also keine Ausnahmeerscheinung. Das ist nicht weiter schlimm und war für meine berufliche Entwicklung auch nicht hinderlich. Auf dem Gymnasium Mackensenstraße, das vom Elendstal aus, wo ich aufgewachsen bin, mit der Bimmelbahn ab Zoo gut erreichbar war, zeichnete sich mit rascher Deutlichkeit eine verkorkste Schullaufbahn ab. Der Wartesaal im Vohwinkeler Bahnhof versammelte allmorgendlich die „Fahrschüler“, Jungs von der „Macke“ und Mädels von der Frauenoberschule, die auf ihr „Pudding-Abitur“ zusteuerten. Männer wie wir – ein halber Liter Wicküler vor Schulbeginn war keine Seltenheit.

Von Koedukation war Mitte der 1960er Jahre auf den Gymnasien noch keine Rede. Meine diesbezüglich benachteiligte Schülergeneration musste Begegnungen mit dem anderen Geschlecht auf die Schulwege reduzieren, die damit zeitlich enorm gestreckt wurden, auch wenn die Mutter mit dem Essen wartete. Mit 16 verbrannte ich auf der „Macke“ endgültig, nicht nur in Mathe und Physik, auch disziplinarisch. Wechsel zur Höheren Handelsschule, wo die Koedukation bereits eingeführt war, sodass besagte Begegnungen mit dem anderen Geschlecht greifbare Züge annehmen konnten. Es bleibt bis heute der Eindruck, dass die Mini-Röcke – historisch betrachtet – vor allem zur Durchsetzung der Koedukation erfunden worden waren. Das von mir ausgeguckte Mädel trug besonders knappe Mini-Röcke, sprach aber auf meine Flirtversuche nur zögernd an. Meine Enttäuschung war riesig, als ich feststellen musste, dass sie einen Freund hatte, und der war auch noch Drummer in einer Beat-Band.

Die Poststraße war in diesen Jahren mittags ein Massenauflauf von Schülern. Hunderte standen vor dem Tchibo, die Tasse kostete 20 Pfennig, quatschten und flirteten. Die Mädels von St. Anna standen in dem Ruf, besonders nahbar zu sein, während die von der Helmholtzstraße als hochnäsig galten.
Ich war 14 oder 15, als es im Deutsch-Unterricht das berühmte Aufsatzthema „Was ich einmal werden will“ gab, ein zeitloser Knaller wie „Mein schönstes Ferienerlebnis“. Förster, Schauspieler, Regisseur, Psychologe? Dann der entscheidende Satz: „…wenn das alles nicht klappt, werde ich Journalist.“ Der Aufsatz bekam eine Eins. Meinem Vater hatte ich schon als kleiner Junge aus der Zeitung vorgelesen, Radio gehört und Ansager gespielt, mit einem Mikrofon aus Holz vor der Nase. Die Schauspieler-Variante befand mein Vater skandalös, die Aussicht auf den Journalisten stürzte meine Mutter in Depressionen – die sind alle Alkoholiker und lassen sich dauernd scheiden.

Ich las Bücher über Journalismus, begann mit 18 Bewerbungen zu schreiben. Kurz nach dem 19. Geburtstag kam mein Vater nach Hause: „Ich habe eine Volontärstelle für Dich. Du gehst morgen zum Staats-Verlag.“ Am 1. November 1968 trat ich meine Stelle an. Volontär beim „Wuppertaler Stadt-Anzeiger“, Wochenblatt (eingestellt 1974). Erster Arbeitstag, Pressekonferenz bei den Milchwerken Bergisch-Land auf Clausen. Ich brachte Buttermilch, Tuffi-Joghurt und sonstigen Quark nachhause, alles alkoholfrei. Meine Mutter nahm es beruhigt zur Kenntnis, ohne zu ahnen, dass die nächste Pressekonferenz völlig anders ausgehen würde. Stadtsparkasse Wuppertal, für die Journalisten eine Flasche Sliwowitz. Die wurde in der Redaktion sofort geleert. Der 19-jährige Volo wollte natürlich mithalten und kam betrunken nach Hause.

Mit 20 fand ich mich ziemlich fertig. Junger Reporter bei einer kleinen Zeitung, Top-Termine: Besuch beim frisch gekürten Bundespräsidenten Gustav Heinemann in Bonn, Besuch bei Hans-Dietrich Genscher in Godesberg, als er 1969 zum ersten Mal in Wuppertal für den Bundestag kandidierte. Mit Oberbürgermeister Johannes Rau in der englischen Partnerstadt South Shields (später South Tyneside), Pressekonferenz mit Ludwig Erhard. Akkreditiert beim ersten Besuch eines DDR-Staatsratsvorsitzenden, neue Ostpolitik, Willy Brandt traf in Kassel Willy Stoph, und ich durfte dabei sein.

Erst einmal beschloss ich, zu heiraten. Meine Freundin, die ich auf der Poststraße kennengelernt hatte, kam aus Barmen. Mein Vater hatte Verständnis, meine Mutter nicht. Die künftigen Schwiegereltern waren gespalten, der Schwiegervater eher ja, die Schwiegermutter radikal nein - nicht etwa, weil wir zu jung waren, sondern, weil ich aus Elberfeld kam. Diese Ehe währte 18 Jahre.

Nach dem Volontariat Wechsel zur Westdeutschen Zeitung, Jung-Redakteur, 80 Mark über Tarif plus Spesen.

Der Liebe wegen zog der Elberfelder nach Dortmund

Wenn ich gefragt werde, woher ich komme, sage ich nicht bloß Wuppertal, sondern füge Elberfeld hinzu. Ich gebe ja zu, aus Elberfelder Sicht war Dortmund für mich hinter dem Ural und Wladiwostok die nächste Station. Diese Verschleppung nach Westfalen gelang meiner Frau. Die Westfälin heiratete den Rheinländer. Deshalb weiß ich auch, was ein Migrationshintergrund ist.

Rückblende: Aufgewachsen sind wir im Elendstal, meine Brüder Bernd, Kaufmann und lange bei Helios, und Thomas, lange Pfarrer in Wichlinghausen, und ich. Das können nur wenige von sich sagen, weil dort kaum jemand lebte. „Am Elend 14“ lautete die Anschrift, die uns in der Schule peinlich war. Dabei war das Elendstal die reinste Idylle.

Es gab keine Heizung, sondern nur zwei Kohleöfen, auf dem in der Wohnküche wurde gekocht. Es gab kein Badezimmer, wir Kinder wurden in eine Zinkwanne gesteckt. Es gab keine Toilette, nur das Häuschen mit Herzchen.

Zur Volksschule Donarstraße liefen wir durch den Wald. Vor allem aber wurde im Wald gespielt. Oft musste unsere Mutter uns bei Sonnenuntergang buchstäblich vom Baum holen. Ende der 1950er wurde die Idylle gestört, als in direkter Nähe gebaut wurde. Dann wurde die Anschrift geändert, von „Am Elend“ in „Hindenburgstraße“. Die unmittelbare Nachkriegszeit war vorüber, unsere Adresse und die Idylle vorbei. Wir zogen in die Stadt, womit natürlich Elberfeld gemeint ist.

In den 1970er Jahren legte das städtische Presseamt Schilder mit originellen Wuppertaler Straßennahmen auf: Erholungsstraße, Gesundheitstraße und Am Elend. Das hing 35 Jahre lang in meinem Büro in der Universität an der Wand und heute zu Hause in Dortmund über der Eingangstür zu meinem Arbeitszimmer. So schön kann Elend sein.