„Die Menschen haben Angst“
Leonid Goldberg warnt vor weiter wachsendem Antisemitismus auch im Bergischen Land.
Herr Goldberg, die Bilder vom Gaza-Konflikt lassen viele Menschen hierzulande nicht unberührt. Welche Gedanken machen Sie sich dazu?
Leonid Goldberg: Israel hat das Recht, sich und seine Bürger zu verteidigen. Der Raketenbeschuss vom Gaza-Streifen aus begann nicht erst mit dieser Militär-Operation, sondern viel früher. Irgendwann müssen diese terroristischen Strukturen zerstört werden.
Aber die Nachrichten von zivilen Opfern verstören viele Menschen.
Goldberg: Wissen sie, mittlerweile haben wir einen Medienkrieg. Die Medien werden zum Teil manipuliert. Es ist bekannt, dass auch Bilder von zivilen Opfern gezeigt werden, die aus Irak oder Syrien stammen. Was die zivilen Opfer angeht, ist jeder Mensch, der getötet wird, einer zu viel - egal auf welcher Seite. Das Schlimmste ist nur, dass die Hamas zivile Einrichtungen als Raketen-Abschussrampen nutzt. Da frage ich: Wer ist der Mörder? Derjenige, der wie Israel vor einem Beschuss die Bevölkerung warnt oder diejenigen, die aus Schulen oder Krankenhäusern Raketen abschießen? Israel bleibt nichts anderes übrig, als solche Abschussrampen zu vernichten.
Der Konflikt hat auch Auswirkungen auf das Zusammenleben hierzulande. Bei Demonstrationen gibt es Anfeindungen nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen Juden allgemein.
Goldberg: Wir sprechen davon schon seit Jahren, und die Politik wollte es nicht so recht wahrhaben. Wir haben einen sehr stark zunehmenden muslimischen Antisemitismus in Deutschland - seit Jahren. Mittlerweile sehen auch die Politiker, dass dieser Antisemitismus ein gefährliches Ausmaß erreicht hat. Aber das ist nicht erst heute so. Jedes Mal, wenn irgendetwas in Israel passiert, kommen hier Rufe wie „Juden sind Kindermörder“ oder „Juden ins Gas“. Das kommt nicht von Rechtsradikalen, sondern von Muslimen. Was mir fehlt, ist da eine Stellungnahme vom Zentralrat der Muslime.
Äußert sich dieser Antisemitismus nur in Parolen?
Goldberg: Zum Beispiel kann unser Rabbiner hier mit einer Kippa überhaupt nicht auf die Straße gehen. Er hat immer einen Hut oder eine Baseball-Mütze auf. Wir hatten vor Jahren in Wuppertal einen Fall, dass ein Junge krankenhausreif geschlagen wurde - von muslimischen Jugendlichen -, nur weil er ein Jude ist.
Ist das auch in Solingen oder Wuppertal zu befürchten?
Goldberg: Wissen sie, in Solingen gab es jetzt diese Anti-Israel-Demonstration. Natürlich ist sie friedlich verlaufen, aber nur, weil wir nicht dagegen demonstriert haben. Hätten wir oder der Freundeskreis Ness Ziona eine eigene Kundgebung gehabt, dann wären wir bestimmt von der anderen Seite angegriffen worden.
Kann das die Lösung sein, dass Sie schweigen, nur weil Sie Angst vor Übergriffen haben?
Goldberg: Es gibt natürlich viele Gemeindemitglieder, die Angst haben. Vor Jahren haben wir gesagt, dass die Zeiten, in denen Juden auf gepackten Koffern sitzen, vorbei sind. Jetzt überlege ich mir, wann wir diese Koffer wieder einpacken sollen.
Wie können wir da noch umsteuern?
Goldberg: Das weiß ich nicht. Das müssen die deutsche Gesellschaft, die Politik und selbstverständlich die Polizei und die Staatsanwaltschaften klären. Aber nicht wir, die jüdischen Gemeinden.
Aber in einer solchen Situation kann doch ein Dialog helfen.
Goldberg: Es hat nie einen Dialog gegeben. Es gibt in Wuppertal zwar einen Runden Tisch der Religionen, in Solingen gibt es einen christlich-jüdischen Gesprächskreis, aber einen Dialog zwischen uns und den Muslimen gibt es in dem Sinne kaum. Wir sind wahrscheinlich mit unseren Meinungen zu diesem Konflikt zu weit auseinander.
Dass Juden in Deutschland wieder das Gefühl haben, auf gepackten Koffern zu sitzen, kann es doch nicht sein. Wer muss denn diesen Dialog, der da nötig ist, anstoßen?
Goldberg: Da muss man nichts anstoßen. Man muss nur diese Taten rechtzeitig stoppen. Mit Polizei, Staatsanwaltschaft und so weiter. Ein Dialog hilft da nicht weiter. Man kann mit Menschen, die, wie am Donnerstag in Düsseldorf, den Oberbürgermeister oder Landtagsabgeordnete bei einer Solidaritäts-Kundgebung für Israel niederbrüllen, nicht reden.
Was tun Sie, um den jüdischen Gemeindemitgliedern vor Ort die Angst zu nehmen?
Goldberg: Wir leben gemeinsam hier in Deutschland. Nicht in Israel und nicht in irgendeinem arabischen Land. Warum sollen wir uns gegenseitig die Köpfe einschlagen? Die Angst kann man den Gemeindemitgliedern aber nicht nehmen. Natürlich reden wir in der Gemeinde viel darüber. Die schlimmen Ereignisse in Essen sind ein Thema. Die Menschen haben Angst. Gott sei Dank, ist nicht sofort zu erkennen, dass man jüdisch ist, wenn man keine Kippa trägt.
Man kann in Solingen oder Wuppertal nicht mehr mit Kippa auf die Straße gehen?
Goldberg: Ja. Dann wird man beschimpft - mindestens. Vor einiger Zeit stand ich hier an unserem jüdischen Café. Da kamen einige Jugendliche, wahrscheinlich türkisch und haben gerufen: „Scheiß Jude!“ Ich stand einfach nur an der Treppe.
Schauen die nicht-jüdischen Deutschen weg?
Goldberg: Bis vor Kurzem: ja. Vor mehr als zehn Jahren habe ich erstmals über den muslimischen Antisemitismus gesprochen. Mindestens einmal im Jahr, am 9. November tue ich das. Aber kein Politiker, kein Mensch wollte es wahr haben. Aber jetzt plötzlich werden sie wach. Als wäre aus heiterem Himmel irgendetwas über uns gekommen. Ich glaube, das war eine starke Erschütterung für alle.
Hoffentlich ist es nicht zu spät.
Goldberg: Das hoffe ich auch, sehr. Nur können wir als jüdische Gemeinschaft nichts machen. Das müssen die deutschen Behörden und die nicht-jüdische Bevölkerung tun.