GASTBEITRAG „Die Schiedsrichterfunktion des Staates ist begrenzt“

Wuppertal · Lambert T. Koch, Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, über Grundgesetz, Wirtschaftsordnung und Wohlstand in Deutschland.

„Grundsätzlich nicht vereinbar mit den Leitideen unserer Verfassung ist ein bevormundender Versorgungsstaat. Auch wenn das Ziel „Wohlstand für alle“ zentral im Sinne des Grundgesetzes ist, gehört dazu untrennbar der ebenfalls dort angelegte Verweis darauf, wie dieses Ziel zu erreichen ist, nämlich durch Wettbewerb“, sagt Lambert T. Koch.

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Das deutsche Grundgesetz – rechtliches Fundament unseres Zusammenlebens als Gemeinschaft – feiert dieser Tage Geburtstag. Eine zentrale Voraussetzung für Wohlstand in unserem Land ist eine funktionierende Wirtschaft. Daher ist es interessant, zu fragen, wie Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, also die Gesamtheit aller Regeln, die Wirtschaften ermöglichen und begrenzen, zusammenhängen. Eine erste wichtige Feststellung ist, dass das Grundgesetz zwar Eckpfeiler für die rechtliche Verfasstheit unserer Wirtschaftsordnung setzt, jedoch keine wirtschaftspolitische Programmatik vorgibt. Während noch die Weimarer Reichsverfassung (WRV) als Vorläuferin ausdrücklich formulierte, dass „die Ordnung des Wirtschaftslebens (...) den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle“ entsprechen müsse, findet sich Vergleichbares im Grundgesetz nicht. Wenn in Deutschland von „Wirtschaftsverfassung“ im Sinne eines Fundaments unserer Wirtschaftsordnung gesprochen wird, müssen wir dies folglich als Sammelbegriff für verschiedene Rechtsnormen verstehen, die das Grundgesetz und das Verfassungsrecht der Europäischen Union bereithalten. Das Fehlen einer expliziten Wirtschaftsverfassung als Teil unseres Grundgesetzes stellt an die im Sinne der Gewaltenteilung im Staate Verantwortlichen besonders hohe Ansprüche. Sie finden zwar die erwähnten Eckpfeiler vor, müssen um sie herum jedoch eine tragfähige Ordnungsarchitektur gewährleisten, die den Herausforderungen der jeweiligen Zeit standhält.

Ist Wirtschaftswissenschaftler und Präsident des deutschen Hochschulverbandes: Gastautor Lambert T. Koch

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Wo aber finden sich die wirtschaftsbezogenen Eckpfeiler in unserer Verfassung? Einen ersten zementiert Art. 2 GG, in dem den Bürgerinnen und Bürgern allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne von Privatautonomie garantiert wird. Dies schließt Vertragsfreiheit mit ein und geht einher mit der Berufsfreiheit (Art. 12 GG), der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) sowie dem allen Berufen zugestandenen „Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden“ (Art. 9 Abs. 3 GG). Jede und jeder können mithin einzeln oder gemeinsam ihre Wirtschaftsaktivitäten nach eigenen Entscheidungen gestalten. Einen weiteren tragenden Pfeiler gibt Art. 20 GG vor. Dort heißt es, „die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ In diesem Fall geht es also nicht um individuelle Freiheiten, sondern um den Staat als soziale Gemeinschaft. Welche sozialstaatlichen Aufgaben den Müttern und Vätern des Grundgesetzes besonders wichtig waren, ist im Rahmen einer umfangreichen Aufzählung in Art. 74 GG festgehalten. Von Bedeutung ist aber auch Art. 72 Abs. 2 GG, der auf die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet als Aufgabe öffentlicher Fürsorge abstellt.

Mit diesen Eckpfeilern werden zwei zentrale Leitbilder für unser Gemeinwesen verknüpft: Einerseits ist sicherzustellen, dass Menschen ihren eigenen Interessen gemäß handeln und damit auch wirtschaften dürfen. Andererseits findet dieses Individualprinzip seine Grenzen dort, wo es um die Herstellung von Chancengleichheit im Sinne des Sozialprinzips geht. Die wechselseitige Verschränkung von Rechts- und Sozialstaatlichkeit schließt Wirtschaftsordnungen aus, die im Wesentlichen nur einem der beiden Prinzipien Rechnung tragen. Insofern ergibt sich eine Bandbreite, die in zwei Richtungen begrenzt wird: Ein Laissez-faire-Liberalismus ist unserem Grundgesetz zufolge als Wirtschaftssystem ebenso wenig möglich wie eine Zentralverwaltungswirtschaft. Unsere soziale Marktwirtschaft ist eine von mehreren denkbaren Ausprägungen, die dazwischen liegen.

Grundidee der sozialen Marktwirtschaft ist es, die Freiheit des Wirtschaftens und einen funktionierenden Wettbewerb zu ermöglichen sowie gleichzeitig Wohlstand und soziale Sicherheit zu fördern. Ihre normativen Wurzeln hat sie im christlichen Menschenbild. Demgemäß kommen jedem einzelnen Menschen Würde und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zu. Verbunden damit ist die Vorstellung, dass wir unser Schicksal zwar in die eigene Hand zu nehmen haben, im Falle des Scheiterns jedoch von der sozialen Gemeinschaft nicht allein gelassen werden. Jede und jeder sollen ihre Existenz in freier Nutzung ihrer Kreativkräfte sichern, am Wirtschaftsleben teilnehmen und im Zuge entstandener Mehrwerte Privateigentum aufbauen können. Dies darf jedoch nicht rücksichtslos auf Kosten anderer geschehen. Die freie Entfaltung der eigenen Lebensart findet dort ihre Grenzen, wo die Freiheiten anderer in ungebührlicher Weise eingeschränkt werden.

Diese Maßgabe ist vor allem im Aufeinandertreffen individueller Interessen auf Märkten von entscheidender Bedeutung. Der Markt ist ein sozialer Interaktionsraum zum Ausgleich unterschiedlicher Vorstellungen von Selbstverwirklichung und materieller Wünsche. Auch er wird zwar nicht explizit durch unser Grundgesetz definiert, resultiert jedoch gewissermaßen automatisch aus den gerade skizzierten Rechtsnormen. Dafür, dass der Wettbewerb auf den ganz unterschiedlichen Märkten nicht außer Rand und Band gerät, muss der Staat eine Schiedsrichterfunktion übernehmen. Mittels wettbewerbspolitischer Instrumente hat er dafür Sorge zu tragen, dass bestimmte Grenzen der Fairness nicht überschritten, die Macht einzelner Marktteilnehmer begrenzt und Märkte für neue Anbieter offengehalten werden. Dabei gilt es, eine effiziente Verteilung von Ressourcen, die Entstehung von Innovationen als Antwort auf Herausforderungen unserer sozialen und natürlichen Umwelt sowie die Souveränität der Verbraucherinnen und Verbraucher zu sichern.

Aber auch die Schiedsrichterfunktion des Staates selbst ist dem Grundgesetz zufolge begrenzt. So dürfen dessen Interventionen die Grundprinzipien insbesondere der Privatautonomie, Eigentumsrechte und Berufsfreiheit nicht essenziell und dauerhaft einschränken. Insofern ist immer neu sorgfältig zu bedenken, welchen Weg man beschreitet, um sozialen Zusammenhalt zu sichern. Grundsätzlich nicht vereinbar mit den Leitideen unserer Verfassung ist ein bevormundender Versorgungsstaat. Auch wenn das Ziel „Wohlstand für alle“ zentral im Sinne des Grundgesetzes ist, gehört dazu untrennbar der ebenfalls dort angelegte Verweis darauf, wie dieses Ziel zu erreichen ist, nämlich durch Wettbewerb. Für Ludwig Erhard (1897-1977), der gerne als Vater der sozialen Marktwirtschaft und des deutschen Wirtschaftswunders bezeichnet wird, war „der echte, nicht manipulierte Wettbewerb das beste und auch wohltätigste Ausleseprinzip“. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Wettbewerb Leistungsanreize schafft und Menschen motiviert, ihre persönlichen Stärken, ihre Ressourcen und ihre Kreativkraft im Ergebnis nicht nur für sich selbst einzusetzen. Vielmehr resultieren aus dem Streben, den Ideen und Errungenschaften Einzelner Benefits für die ganze Gesellschaft, wie schon der Vater der Nationalökonomie Adam Smith (1723-1790) aufzeigte. Produkte und Dienstleistungen sind dabei nicht nur Gewinnbringer, sondern auch Problemlösungen für die Herausforderungen der jeweiligen Gegenwart und Zukunft.

Letzteres lässt sich aktuell besonders gut an den so dringend benötigten innovativen Antworten auf die Probleme des Klimawandels und der Umweltzerstörung ablesen. Mehr denn je sind wir auf findige Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler, Unternehmerinnen und Unternehmer angewiesen, um die nötige Transformation unserer Wirtschaft zu bewältigen. Dafür dürfen diese jedoch nicht durch übermäßige staatliche Interventionen behindert und demotiviert werden. Technologische Innovationen, etwa in den Bereichen ressourcenschonende Mobilität, klimaneutrales Bauen oder CO2-reduzierte Produktion, müssen miteinander konkurrieren, damit die tragfähigsten Ideen sich im freien Wettbewerb durchsetzen können. Infolge genau dieser Konkurrenz dürfen wir auf herausragende Zukunftslösungen hoffen, welche die erforderliche wertschätzende Koexistenz von Mensch und Natur wieder langfristig sichern helfen. Wirtschaftspolitik darf sich daher nicht anmaßen, Wettbewerbsergebnisse vorwegnehmen zu können. Denn wie in einem Trabrennen gewinnt bisweilen das Pferd, auf das anfänglich niemand gesetzt hat. Auch mit Blick auf die Verbraucherinnen und Verbraucher weist das Grundgesetz den Weg, wie weit politische Fürsorge gehen darf. Vorrang muss das Bemühen haben, Menschen über seriöse Kommunikation zu überzeugen, neue Wege zu gehen. Ge- und Verbote hingegen sollten stets Ultima Ratio bleiben, weil sie mit den Freiheitsgrundsätzen der Verfassung nur ausnahmsweise übereingehen.

75 Jahre Grundgesetz bieten einen hervorragenden Anlass, unsere aktuelle Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik daraufhin zu überprüfen, ob sie noch der ursprünglichen Intention unserer Verfassungsmütter und -väter entsprechen. Die rechtlichen Grundfesten der Wirtschaft haben sich über all die Jahre als förderlich erwiesen und dürfen getrost als Garant für Wohlstand und Freiheit gelten. Inkompetenz, Ungeduld oder Angst auf politischer und gesellschaftlicher Ebene sollten daher keinesfalls dazu führen, dass wir die Ordnungsideen unseres Gemeinwesens verraten und damit ein menschenwürdiges Miteinander aufs Spiel setzen.