„Die Tafeln haben die Armut doch erst sichtbar gemacht“

Seit zwölf Jahren leitet Wolfgang Nielsen die Wuppertaler Tafel. Für das neue Jahr will er mehr ehrenamtliche Kräfte gewinnen.

Herr Nielsen, mit welchen Plänen für die Tafel gehen Sie ins Jahr 2012?

Wolfgang Nielsen: Uns ist es gelungen, den Bürger für seine Stadt zu sensibilisieren. Bürger, Spender und Sponsor unterstützen die Tafel durch Geldspenden, Mitarbeit und Sachspenden. Das gilt es in 2012 zu erhalten. Außerdem wollen wir für 2012 erreichen, dass es weiterhin genug Lebensmittel für die Tafel gibt. Aber da mache ich mir keine Sorgen. Die Tafeln in Deutschland sind mittlerweile sehr etabliert. Gedanken mache ich mir über die Mitarbeiter, die hier für 1,50 Euro die Stunde arbeiten. Wir haben zwar bis jetzt so gut wie keine Kürzung in diesem Bereich — bei uns sind bisher nur fünf der ehemals 47 Stellen gestrichen. Aber das gilt nur bis zum 30. Juni 2012.

Wie wollen Sie die möglichen Stellenstreichungen ausgleichen?

Nielsen: Wir müssen darauf hin arbeiten, dass wir mit Ehrenamtlichen oder mit intensiverer Betreuung der Sozialstündler diese Lücke ausgleichen können. Und wir haben drei Bundesfreiwillige. Mit denen könnte man dann natürlich auch arbeiten. Außerdem wollen wir mehr Ehrenamtliche gewinnen.

Wird die Bedürftigkeit der Menschen 2012 zunehmen?

Nielsen: Es brechen auch Menschen weg, die nicht mehr zur Tafel kommen, zum Beispiel, weil sie einen Job gefunden haben. Ich sehe das oftmals ein bisschen übertrieben, wenn eine Tafel sagt, dass sie so viel mehr Zulauf hat. Denn die Menschen, die nicht mehr zur Tafel kommen, erwähnen sie nicht. Ich denke, dass die Nachfrage zurzeit gleichbleibend ist. Es gab mal einen Anstieg, aber der liegt schon vier oder fünf Jahre zurück. Seitdem sind wir fast konstant.

Wie stehen Sie zu der Kritik, dass Tafeln die Armut eher noch verfestigen als beseitigen?

Nielsen: Initiativen wie die Tafeln haben Armut doch erst sichtbar gemacht. Aber an der Armut kann ich nichts ändern. Wir können die Welt nicht so ändern, dass plötzlich alle Arbeit haben. Aber man kann den Menschen Mut machen, dass sie bei Problemen das Angebot der Tafel in Anspruch nehmen und in eine etwas bessere Zukunft blicken können. Da soll man doch froh sein, wenn Menschen sich gefunden haben und etwas tun wollen, damit es anderen Menschen besser geht.

Aber wäre es nicht sinnvoller, das Problem Armut direkt an der Wurzel zu packen und die Ursachen statt nur die Auswirkungen von Armut zu bekämpfen?

Nielsen: Natürlich muss man Armut an der Wurzel packen. Aber die kriegt man doch gar nicht. Wie soll man die denn bekämpfen? Das kann der Staat nicht, das kann die Kommune nicht. Natürlich dürfte es Tafeln, und vor allem Kindertafeln, eigentlich gar nicht geben. Aber angesichts der Situation heute stehe ich auf dem Standpunkt, dass die Tafel, wenn es sie nicht gäbe, sofort gegründet werden müsste.

Wenn es die Tafel nicht gäbe, würden die Menschen dann hungern?

Nielsen: Verhungern müsste keiner, davon bin ich überzeugt. Ich weiß aber von Menschen, die 14 Tage lang nur Nudeln essen konnten, weil sie kein Geld für anderes Essen hatten. Die hungern also nicht unbedingt, aber leiden unter Mängelernährung. Das ist auch ein Grund, warum wir die Kindertafel machen. Wir machen das nicht, um die Kinder satt zu machen, sondern um sie mit einer gesunden Ernährung satt zu machen. Darüber hinaus wird in der Kindertafel auch noch viel mehr angeboten, zum Beispiel Hausaufgabenbetreuung.

Aber es ist doch Aufgabe eines Sozialstaates, die Menschen so zu versorgen, dass sie nicht jeden Tag Nudeln essen müssen.

Nielsen: Das tut der Sozialstaat ja. Die Menschen bekommen Hartz IV. Aber es reicht eben nicht, das ist ja das Fass ohne Boden. Man muss sich nur das Thema Bildungspaket ansehen: Da wird alleine hier mehr als eine Millionen Euro für Werbung ausgegeben. Ich finde das traurig. Denn das Angebot wird ja kaum angenommen, weil die Leute Probleme haben, so einen Antrag auszufüllen oder sich erst gar nicht trauen, einen Antrag zu stellen.

Trägt die Tafel dazu bei, Menschen in eine Unmündigkeit und Abhängigkeit zu bringen? Weil sie wissen, dass sie dort täglich mit Essen versorgt werden, ohne sich darum kümmern zu müssen?

Nielsen: Es ist ja nicht so, dass die Leute gerne zur Tafel gehen. Die würden lieber ins Opernhaus, aber die haben kein Geld dafür. Eine Frau hat sich mal bei mir beschwert, dass die Leute hier kostenlos essen und dann nach draußen saufen gehen. Das Geld für die Kneipe haben die aber nicht. Dass sie dahin gehen, wo die Flasche wenig kostet, und sich dort mit anderen treffen, um zu kommunizieren, ist doch verständlich. Das ist ein Stück Lebensqualität für die Menschen. Die besagte Frau hat mir am nächsten Tag gesagt, dass ich ihr beigebracht hätte, was Demut ist. Und darum geht es doch: Man muss auch gönnen können. Man kann nicht immer alles schlecht reden.

Die Tafel ist eine Institution, die Menschen helfen und sozial sein will. Ist es da nicht widersprüchlich, dass Sie Menschen beschäftigen, die für 1,50 Euro die Stunde arbeiten?

Nielsen: Ich bin früher angegriffen worden, dass ich Menschen für 1,50 Euro arbeiten lasse und sie ausbeute. Ich weiß aber, dass diese Menschen das Geld dringend brauchen. Die kriegen es zusätzlich zu Hartz IV und bekommen noch ein Fahrtticket. Wir werden immer mit diesem Problem leben. Da ist es besser, die Leute niederschwellig zu beschäftigen, als gar nicht. Und es ist schön, wenn man diesen Menschen das Gefühl geben kann, gebraucht zu werden.