Serie 90 Jahre in Wuppertal Kultur in Wuppertal in den Nachkriegsjahren
Wuppertal · In den 1950er und 1960er Jahren war Wuppertal ein Magnet für die nationale und internationale Kunstszene.
„So sind die Wuppertaler. Sie stecken voll Ungeduld. Sie haben die Depression der Kriegsjahre und des Zusammenbruchs abgeschüttelt und stehen nun auf der Rennbahn wie eine Mannschaft ohne Starter. Sie sind bereit für das große Rennen und erwarten das Signal zum Laufen. […] Aus dem lebendigen Trümmerfeld Wuppertal wird die lebendige Neuschöpfung Wuppertal erwachsen.“
Diese kleine Reportageminiatur, veröffentlicht im Sommer 1946 in der Tageszeitung „Die Welt“, gibt eine von Zuversicht und Pragmatismus geprägte Stimmungslage wider, die wohl für viele deutsche Städte im Nachkriegsdeutschland typisch war. Die ins Exil getriebene deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt betrachtete diese „fieberhafte Geschäftigkeit“ allerdings mit Skepsis. Als sie 1950 das immer noch stark zerstörte Land bereiste, erschien ihr diese Haltung als „Hauptwaffe“ bei der Abwehr der Wirklichkeit. Fast verzweifelt rief sie den Nachkriegsdeutschen entgegen: „Man möchte aufschreien: Aber das ist doch alles nicht wirklich – wirklich sind die Ruinen; wirklich ist das vergangene Grauen, wirklich sind die Toten, die Ihr vergessen habt.“
Ruinen besaß auch Wuppertal genug. Im Frühjahr 1945 lagen rund 8.000 Wohnhäuser mit ca. 42.000 Wohnungen vollständig in Trümmern. 1952 war davon erst die Hälfte an Schutt abgeräumt, aber immerhin waren 32.000 neue Wohnungen entstanden. Die gewiss auch aus einem Bedürfnis nach Verdrängung der NS-Vergangenheit gespeiste Wiederaufbaueuphorie hat tatsächlich so etwas wie eine „lebendige Neuschöpfung“ der Stadt entstehen lassen. Sichtbares Zeugnis davon legen eine Reihe markanter Gebäude aus den architekturgeschichtlich so oft geschmähten Fünfziger Jahren ab, z.B. der imposante Glanzstoff-Komplex am Kasinokreisel (1954-58), das elegante Geschäftshaus von Raumkunst Becher (1956, heute Sparda-Bank) an der Herzogstraße, die kühn konstruierte Schwimmoper (1957), die Barmer Kinderklinik (1958) oder das aus Ruinen im Geist der Zeit wiederaufgebaute Opernhaus (1956). Nicht zu vergessen: Wuppertals erstes Hochhaus, der neunstöckige „Wolkenkratzer“ am Kleeblatt (1953), über dessen städtebauliche Sensation mit Luftheizung und hauseigenem Müllschlucker sogar auswärtige Zeitungen berichteten. Zu den ersten Mietern gehörte die Familie des damaligen Generalintendanten der Wuppertaler Bühnen, Helmut Henrichs.
A propos Wuppertaler Bühnen: Auch das kulturelle Leben der Stadt schwang sich seinerzeit zu neuen Höhen auf, denn das Verlangen nach künstlerischer Erbauung, guter Unterhaltung und geistig-moralischer Stärkung war besonders in den ersten beiden Nachkriegsjahrzenten riesengroß. Schon 1954 zählte die von den Nazis aufgelöste „Kulturgemeinde Volksbühne e.V.“ in Wuppertal fast 12.000 Mitglieder (!).Wuppertals Theater erlebten in den beginnenden Wirtschaftswunderjahren eine lang nachwirkende Blütezeit. Henrichs und sein Nachfolger Grischa Barfuss, der als Jude im Versteck die Verfolgung überlebte, holten renommierte Regisseure ins Tal, sie verpflichteten hochkarätige Mimen und formten die Bühnen zu einem leistungsstarken Ensembletheater. Als Ersatz für das noch nicht erbaute Schauspielhaus an der Kluse diente das legendäre „Theater an der Bergstraße“. Noch heute bringt dieser Ort vielen älteren Wuppertalerinnen und Wuppertalern ein Leuchten in die Augen und lässt Erinnerungen an damalige Ensemblemitglieder wach werden: Edith Herdeegen, Erich Ponto, Bernhard Minetti, Harald Leipnitz, Horst Tappert, Johanna von Koczian oder Xenia Pörtner. Schon 20 Jahre vor Pina Bausch und ihrem Tanztheater galt Wuppertals Ballett unter seinem Primus Erich Walther als das musikalisch anspruchsvollste in der ganzen Bundesrepublik. Besonders in der Oper sorgte der auch international wahrgenommene so genannte „Wuppertaler Stil“ mit innovativer Repertoirepflege und intelligenten Inszenierungen zwischen Monteverdi, Mozart, Hindemith und Henze für ein fast beständig hohes Niveau. Das provozierte auswärtige Kritiker zu der erstaunten Frage: „Wo liegt Wuppertal?“
1954 wurde das stark kriegsbeschädigte „Thalia“ am Islandufer wiedereröffnet. Heute steht dort die Stadtsparkasse. In diesem Varieté- und Filmtheater gab sich in den „Fünfzigern“ die Elite der populären Unterhaltungskultur die Klinke in die Hand: Willy Millowitsch, Rudi Schuricke, Peter Frankenfeld, Gerd Fröbe, Zarah Leander, Conny Froboess, Sonja Ziemann und Marika Rökk. Aber es reisten auch richtige Weltstars an die Wupper, etwa die Tiller-Girls, Louis Armstrong, Josephine Baker und Bill Haley, der 1958 mit „Rock around the clock“ und anderen Hits das vorwiegend junge Publikum zu tobender Begeisterung hinriss. Das „Thalia“ bot alles, was das Herz des damaligen Zeitgenossen höher schlagen ließ. Dazu gehörten auch Erst- und Uraufführungen von Filmen, deren Titel heute aus Gender- oder postkolonialer Perspektive gewiss Anstoß erregen würden: „Tante Jutta aus Kalkutta“, „Schön muss man sein“ oder „Jede Nacht eine andere im Bett“.
Die städtische Kulturpolitik kennzeichnete in jenen Jahren ein enges Beieinander von Restauration und Fortschritt, von konservativer Rückbesinnung und gestalterischem Wagemut. So wurde etwa Arno Breker, der erfolgreichste Bildhauer in der NS-Zeit, 1957 mit der Schaffung der klassisch geformten, etwas magersüchtig anmutenden Skulptur „Pallas Athene“ vor dem Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium beauftragt. 1959 erwarb die Stadt dann die üppige Bronzefigur „Die Sitzende“ von Henry Moore. Ein größerer ästhetischer Gegensatz zur Breker-Figur lässt sich kaum vorstellen. „Die Sitzende“ wurde vor der „Schwimmoper“ platziert und sollte ausdrücklich mit der Modernität ihrer Architektur korrespondieren. Das war mutig, denn in der Bevölkerung war ihre Anschaffung höchst umstritten. Im Dezember wurde die Bronzefigur in einer nächtlichen Aktion von Verächtern moderner Kunst „geteert und gefedert“ und so der Lächerlichkeit preisgegeben. Noch 1966 lehnten bei einer Leserumfrage des „General-Anzeigers“ 50 Prozent der Befragten die Skulptur Henry Moores ab. Sie musste mehrfach ihren Standort wechseln. Seit 2017 befindet sie sich als Dauerleihgabe im Skulpturenpark von Tony Cragg.
Auch das intellektuelle Leben der jungen Bundesrepublik fand in Wuppertal seinen Nachhall. Die 1946 gegründete Gesellschaft „Der Bund“ entwickelte sich von einem anfangs restaurativ-elitären Kreis zu dem wohl wichtigsten Forum der politischen, wissenschaftlichen und Diskussion dieser Jahre. Alles was geistig damals Rang und Namen hatte, kam zu Lesungen, Vorträgen oder Tagungen in die Stadt: Arnold Gehlen, Helmuth Thielicke, Gerhard Domagk, Helmut Schelsky, Ernst Bloch, Günther Anders, Hans-Magnus Enzensberger, Walter Jens, Theodor W. Adorno u.a. 1955 analysierte der junge Jürgen Habermas auf einer Tagung des „Bunds“ mit radikal gesellschaftskritischen Thesen das „Missverhältnis von Kultur und Konsum“. Der „Bund“ war es auch, der neben Benn noch viele andere bedeutende Autoren und Autorinnen einlud und dem neugierigen Wuppertaler Publikum bekannt machte, u.a. Gottfried Benn, Max Frisch, Heinrich Böll, Ilse Aichinger, Uwe Johnson, Günther Grass, Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Für Letztere spielte Wuppertal eine besondere Rolle. Bachmann und der verheiratete Celan waren hoch empfindsam, von charismatischer Ausstrahlung und zugleich emotional zerrissene Menschen. In Wuppertal, wo sie 1957 bei einer Tagung über Literaturkritik zusammentrafen, entflammte ihre Leidenschaft für einander noch einmal neu und sehr heftig. Für die Liebenden war damals „Herzzeit“ (P. Celan) in Wuppertal – mit unglücklichem Ausgang.
Eine herausgehobene Stellung in Wuppertals Kulturleben dieser Zeit – und für die gesamte junge Bundesrepublik – besaß ohne Zweifel auch die legendäre Galerie Parnass. Für alle, die sich damals für neue, gegen die klassischen ästhetischen Regeln revoltierende Kunst interessierten, war die zuletzt im Briller Viertel angesiedelte Galerie eine der wichtigsten Adressen. 1958 stellte dort der eigenwillige Nonkonformist Friedensreich Hundertwasser sein berühmtes „Verschimmelungsmanifest“ gegen die Rationalität in der Architektur vor. Diese progressive Linie setzte sich dann in den 1960er Jahren fort, als dort mit Nam June Paik, Wolf Vostell, Bazon Brock, Charlotte Moorman und Joseph Beuys die ersten Kunst-Happenings auf deutschem Boden stattfanden.
Wuppertal präsentierte sich spätestens seit der Mitte der 1950er Jahre in vielen Bereichen als eine moderne, dem intellektuellen, kulturellen und sinnenfreudigen Zeitgeist gegenüber aufgeschlossene Großstadt. Eine kleine Anekdote bringt das zusammen und anschaulich auf den Punkt. Glaubt man dem großen Fabulierer Günther Grass, muss Wuppertal für den damals noch in der DDR lebenden Schriftsteller Uwe Johnson eine besondere Offenbarung gewesen sein. Mit beiden Autoren fand die deutschsprachige Dichtung endlich wieder Anschluss an die internationale literarische Moderne. 2007 erinnerte sich Grass ganz männertypisch an einen gemeinsamen Aufenthalt in der Stadt im Oktober 1960:
„Und wir haben auch mal eine gemeinsame Lesereise gemacht und kamen nach Wuppertal. Johnson äußerte den Wunsch, in eine richtige Nachtbar zu gehen. Ich habe dann eine Kneipe aufgetrieben mit Nackttänzerinnen, die an den Brustwarzen Troddeln hatten und diese wild drehten. Eine Zirkusattraktion. Johnson starrte gebannt auf die Brüste und sagte: Das also ist der Westen“.