Wuppertal Ein schöner Tag auf der Trasse

Wenn es sie nicht gäbe, müsste sie erfunden werden. Wie eine ehemalige Bahnstrecke Wuppertal nach vorne bringt.

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Eigentlich dürfte ihn ja gar nichts mehr überraschen. Schließlich hat David J. Becher  die Entwicklung der Nordbahntrasse hautnah verfolgt. Als Nachbar, der 2006 praktisch gegenüber dem einstigen Bahnhof Mirke einzog, als die Gegend ein „Dead End“ mit Tankstellen- und Bahnhofsbrache war, perfekt als Drehort für den nächsten „Mad Max“. Dann als Mitglied der Utopiastadt, die jenen „toten“ Bahnhof zu einer bundesweit beachteten Stätte zukunftsweisender Stadtplanung entwickelte.

Und nicht zuletzt als Nutzer der Trasse, auf der bis in die 1990er Jahre die Züge der Rheinischen Strecke durch Wuppertal fuhren und heute Spaziergänger, Jogger, Radfahrer, Hundehalter,  Skater und praktisch alle anderen, die nicht motorisiert unterwegs sind, ihren Weg durch die Stadt finden. „Und doch gibt es immer wieder etwas Neues zu entdecken“, sagt Becher bei der Fahrt über die Trasse. „Wuppertal — die Stadt der Ausblicke.

Wer will, kann an der Trasse
auch Draisine fahren

Die Trasse hat der Stadt schon einige verkehrsplanerische Preise gebracht. „Wenn es sie nicht schon gäbe, müsste man sie erfinden“, sagen Fans der 22 Kilometer langen Strecke, die Wuppertals Westen von Vohwinkel aus mit dem Osten bis zur Stadtgrenze Sprockhövel verbindet — oder eben umgekehrt. Wer sie erfunden hat, lässt sich im Nachhinein nicht ganz eindeutig klären. Ideen, die nicht mehr genutzte Bahnstrecke zu reaktivieren, gab es auch schon in den 1980er Jahren bei der Stadt Wuppertal.

Für den entscheidenden Impuls sorgte aber die Wuppertalbewegung. Der 2006 von Carsten Gerhardt gegründete Verein brachte das Thema in die Öffentlichkeit, kämpfte für die Umsetzung. Dass Gerhardt und die Stadtspitzen dabei das eine oder andere Mal auch aneinander gerieten — Schwamm drüber, das Ergebnis zählt. Über Jahre dauerte der millionenschwere Umbau, gefördert aus verschiedenen Töpfen und ermöglicht auch dank vieler Kräfte des zweiten Arbeitsmarktes.

Vom Osten der Stadt „robbte sich die Trasse in den Westen“, erinnert sich Becher augenzwinkernd. Eröffnet 2014 wurde die Strecke schnell zu einem echten Erfolgsmodell. „Es ist ein Stück Lebensqualität“, sagt Becher. Man sei in der Stadt, aber praktisch im Grünen. Er lacht: „Mit viel Fantasie kann man sich das Autobahnrauschen auch als Meeresrauschen vorstellen.“

Was den Reiz ausmacht, sind die Gegensätze — und eben Ausblicke, Ausblicke, Ausblicke. Viel Natur im Westen, wo es in Vohwinkel auf die Trasse geht; architektonisch interessante Gebäude am Streckenrand und in der Umgebung; Tunnel und Viadukte, die einen völlig anderen Blick auf die 360 000 Einwohner-Stadt Wuppertal erlauben; und im Osten sogar Felsschluchten und eine Gegend, die einen völlig vergessen lässt, dass man sich immer noch in der siebtgrößten Stadt in NRW befindet. „Es ist ein Perspektivwechsel“, beschreibt Becher seine Eindrücke, die eine Tour über die Trasse bietet. Von wo man gerade guckt, immer gibt es etwas anderes zu sehen.

Vor allem ist die Trasse aber auch eins: praktisch. Wo sonst kann man im Bergischen Land, das seinen Namen zwar nicht von den Bergen hat, aufgrund derselbigen aber für Radfahrer doch recht anspruchsvoll sein kann, mehr als 20 Kilometer praktisch ohne Steigung fahren?

Doch  Beliebtheit kann mitunter auch ein kleines Manko sein. Wer an schönen Tagen die Trasse befährt oder begeht, muss mit ordentlich Betrieb rechnen. Zum Glück gibt es genug auf und abseits der Strecke, um einfach mal zu verweilen. Alles auf und an der Trasse aufzuzählen, ist fast unmöglich. Schließlich sind es auch nur ein paar Radminuten, um zum Beispiel die Zentren von Barmen und Elberfeld zu erreichen.

Wir bleiben aber erstmal direkt an der Trasse. Wer Kinder hat, dem sei zum Beispiel der neu gemachte Spielplatz Giesenberg mit seiner Röhrenrutsche in der Nähe des Bahnhofs Wichlinghausen empfohlen. Direkt am Bahnhof gibt es dazu weitere „Action“ mit der Skatehalle Wicked Woods, einem Spiel- und Bolzplatz und der Parkour-Anlage. Für ein Päuschen lohnt das Nordbahntrassen-Café direkt an der Halle samt Außengastronomie.

Die Kombi zwischen Sport und Erholung bietet ebenfalls der Bahnhof Blo. Im ehemaligen Gold-Zack Werk in der Nordstadt ist eine Kletterhalle eingerichtet worden — samt Café.

Ein besonderes Erlebnis wartet am Bahnhof Loh auf diejenigen, die mal etwas anders in die Pedale treten wollen: eine Tour mit der Draisine. Die Arbeitsgruppe Eisenbahngeschichte der Wuppertalbewegung um Rolf Dellenbusch hält die Strecke liebevoll in Schuss. Hin und zurück sind es gut drei Kilometer, parallel zur eigentlichen Trasse. Als einmalige Erinnerung gibt es für alle Draisinenfahrer sogar echte, in nostalgischer Optik gehaltene Fahrkarten. „Schwarzfahren ist nicht“, sagt Dellenbusch als Kontrolleur dann stets mit einem Schmunzeln.

Spielplätze, Ausblicke, Viadukte, Tunnel — und sogar eine Kapelle

Sind die Draisinen schon ein echter Klassiker, könnten die Hackenberg’schen Gärten an der Askanierstraße im Osten der Strecke vor Wichlinghausen noch einer werden. „Die kenne ich auch noch nicht“, sagt Becher bei der Rundfahrt gespannt. Auf diesem Grundstück direkt an der Trasse, aber gut sieben Meter oberhalb gelegen, stand einst ein Teehaus im japanischen Stil. Über Jahrzehnte versank das Areal, das einst einem Fabrikanten gehört hatte, jedoch im Dornröschenschlaf, ehe es — mit Geldern eines aktuellen Fabrikanten — wieder hergerichtet wurde. Kürzlich wurde es eröffnet und lädt zur Rast ein.

Sogar eine Kapelle wurde an der Trasse errichtet, am Bergischen Plateau gleich hinter dem Bahnhof Wichlinghausen und benannt nach Johann Hinrich Wichern.

Wer sich für Wuppertals Industriegeschichte interessiert, ist auf der Nordbahntrasse ebenfalls richtig. Dutzende Schautafeln entlang der Strecke bieten Lesestoff samt Bildern. Wer sich weitergehender informieren will und seine Tour anhand der Historie planen möchte, hat genügend Anlaufpunkte: vom Kalktrichterofen am Eskesberg im Westen über die stattlichen Gebäuderiesen der ehemaligen Konsumgenossenschaften bis zum Tunnel Schee am östlichen Ende.

Was Becher immer wieder reizt, sind die kleinen Entdeckungen an der Strecke. Der Imker mit seinem Nordbahntrassenhonig etwa, gleich neben dem von Martin Michels liebevoll gepflegten Steingarten am Loh. Oder der Anwohner am Bergischen Plateau, der für einen guten Zweck Würstchen verkauft.

Und dann gibt es noch die Utopiastadt: Stadtentwicklungsprojekte, Gastronomie, Kunst und Kultur — all das geballt rund um den ehemaligen Bahnhof Mirke. Vor einigen Monaten wurde das Areal noch um ein echtes Zirkuszelt erweitert. Ein Hingucker am Rande der Strecke.

Bei all den Fans der Trasse mutet es daher doch etwas seltsam an, dass vor nicht allzu langer Zeit die Allianz Pro Schiene und der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) noch vorschlugen, aus der Nordbahn- wieder eine Bahntrasse zu machen — und dafür heftige Kritik ernteten. Der Zug ist, so machte auch Wuppertals Oberbürgermeister Andreas Mucke deutlich, abgefahren. Zum Glück.