Ein Weinglas erzählt von der schrecklichen Nacht
Auszüge aus „Fundstücke aus dem Dritten Reich“ zur Ausstellung in der Begegnungsstätte Alte Synagoge 2016.
Eins der empfindlichsten Objekte im Depot der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal ist ein Weinglas aus geschliffenem Kristall — extrem deformiert. Es erzählt eine schreckliche Geschichte, nämlich die vom Brand, mit dem die Bomben der britischen Royal Air Force in der Nacht vom 30. Mai 1943 den Stadtteil Barmen nahezu flächendeckend überzogen.
Nach dem militärischen Desaster von Stalingrad Anfang 1943 nahmen die alliierten Bomberverbände besonders die Industriestädte des Ruhrgebiets ins Visier, um die für Deutschland kriegswichtige Produktion und die Transportwege zu zerstören. Auch die Moral der in dem Ballungsgebiet lebenden Menschen sollte mit dieser Luftoffensive, der „Battle of the Ruhr,“ untergraben werden, um das Land zur Kapitulation zu zwingen. In den fünf Monaten zwischen März und Juli 1943 lassen sich insgesamt 45 große Bombardements vor allem in Westdeutschland aufführen, und in dieser Liste ist das auf Barmen das achtundzwanzigste.
In den vergangenen Jahren hatte es immer wieder Alarm gegeben, so dass sich eine gewisse Routine ausgebildet hatte. Das, und weil nie größerer Schaden entstanden war, hatte viele Bürger nachlässig gemacht. Sie nahmen die Bedrohung nicht mehr richtig ernst.
719 Flugzeuge wurden gegen Barmen eingesetzt. 2677 Tonnen Sprengbomben und 2951 Tonnen Brandbomben lösten ein Großfeuer aus, das Gebäude, sämtliche Infrastruktur, Parks und Wälder vernichtete. Bei keinem der zuvor geflogenen Angriffe hatte es mehr als 1000 Tote gegeben, selten nur mehr als 500, aber in Barmen waren es plötzlich 3400 Menschen, und auch die Zahl der total zerstörten Wohnhäuser war mit fast 4000 unerwartet hoch.
Tatsächlich waren die Wuppertaler Flak-Geschütze in den zurückliegenden Kriegsjahren zum großen Teil in die für die Luftschläge wichtigeren Ruhrgebietsstädte verlagert worden, weil man angenommen hatte, diese seien die eigentlich bedrohten Angriffsziele. Wuppertal galt hingegen als eher ungefährdet, da es praktisch kaum kriegswichtige Produktionsstätten besaß.
Dieses Kalkül ließ strategische Überlegungen außer Acht, in denen es gar nicht um die Zerstörung der Industrieanlagen ging, sondern darum, die Städte und ihre Bewohner in Panik zu versetzen und sie zu zwingen, nach „Schutz zu schreien“ und sich um die Verteidigungswaffen zu streiten. Das war die Absicht des sogenannten „moral bombings“.
Im Jahr 1993, 50 Jahre nach den Bombardierungen, bat man Wuppertaler Bürgerinnen und Bürger, ihre Erinnerungen aufzuschreiben und einzusenden. Diese Dokumente zeichnen ein sehr persönliches Bild von dem übergroßen Schrecken und der unvorstellbaren Angst der Menschen, aber auch von der Kraft und dem Mut, diese Katastrophe zu überstehen.
„Kurz nach Mitternacht Sirenengeheul, nicht anders, wie wir es mittlerweile gewohnt waren. Die nötige Vorsicht, sich gleich anzuziehen und für den Schutzraum zu rüsten, wurde von den meisten versäumt und so kam das Schicksal für die meisten Menschen zu schnell und unverhofft. Auch Mutter war noch nicht angezogen, als die ersten Bomben fielen und die Fensterscheiben klirrten. Mit Mühe und Not erreichten wir dann, alle die im Hause waren, den Luftschutzraum.“
„Bevor nun die Kellertreppe vom Feuer ganz erfasst wurde, wobei uns jede Fluchtmöglichkeit genommen worden wäre, verließen wir in panischer Angst den Keller und konnten nur mit großer Mühe unsere Haustür erreichen. Nun standen wir auf der Straße und konnten dort erst sehen, dass das Haus bereits bis zur 2. Etage in Flammen stand. Um uns herum ein Inferno einer unvorstellbaren Feuersglut, das Heulen, Bersten und Detonieren von immer wieder neu abgeworfenen Bomben und Luftminen, die wahnsinnigen Schreie von Menschen, die teils nicht mehr in der Lage waren, sich fortzubewegen, weil sie mit den Füßen in aufgeweichtem Asphalt steckten.“
„Meine Mutter saß noch Sonntag Nachmittag mitten auf der Straße vor den brennenden Trümmern und wartete auf Vater. Wie er durch die brennenden Straßen hier heraufgekommen ist, wo er kaum sehen konnte, mit versengter Netzhaut und einer schweren Rauchgasvergiftung, ist mir heute noch unglaublich.“
„Danach kam ein Weg, der schrecklichste Weg meines Lebens. Ab Loher Straße sah man kein Haus mehr. Nur öde Fensterhöhlen, wir traten über große brennenden Halden, verkohlte Leichen am Weg, ach, ich mag gar nicht mehr dran denken, doch jede Nacht kommen die Bilder wieder vors Auge.“
3400 Menschen, so schätzt man nach Auswertung vieler verschiedener Quellen, sind in dieser Nacht umgekommen oder später an ihren Verletzungen gestorben. Fotografien im Stadtarchiv vermitteln erschütternde Eindrücke von der Verlorenheit der Überlebenden, die orientierungslos und mit abgestorbenen Gefühlen ins Nichts starrten.
Der „Barmer Angriff“ war ein Signal über Wuppertal hinaus und bewirkte im Laufe des Jahres 1943 einen Stimmungsumschwung. Aber Kriegsmüdigkeit, fehlender Schutz und mangelnde Versorgung führten nicht zu offenem Protest, der die Regierung ernsthaft hätte gefährden können. Unter dem Druck strengerer Beobachtung und drohenden scharfen Strafen einerseits und in der Angst um Leib und Leben durch die Bombardierungen andererseits wagten die meisten nicht, gegen die Maßnahmen der nationalsozialistischen Führung aufzubegehren, sondern verhielten sich unauffällig und fatalistisch. Nur im Geheimen verloren viele Menschen das Vertrauen in den NS-Staat und den Glauben an einen militärischen Sieg.
Als Katharina E. mit ihrem Mann einige Tage nach dem „Barmer Angriff“ durch die qualmenden Ruinen ihres Hauses in der Ottostraße kletterte, fand sie nur noch einen Gegenstand, das fast zerschmolzene Weinglas. Ihre Nichte schrieb uns dazu:
„Meine Tante Frau Katharina E. […] hat den Luftangriff auf Barmen im Mai 1943 in der Ottostraße erlebt. Sie konnte mit ihrem Ehemann nichts retten außer diesem einen Glas, was sie zur Erinnerung und zur Mahnung an den Krieg behalten hat. Sie hatte, als sie es mir schenkte, den Auftrag erteilt, das Glas als Zeichen für unsere Nachkommen zu erhalten, um diesen Krieg mit seinen Schrecken in Erinnerung zu behalten und zu hoffen, dass es nie wieder zu einem Krieg kommen möge.“