Einsame Stunden in der Registratur
Kolumnist Uwe Becker über drei Jahre freudlose Ausbildung.
Von 1969 bis 1972 absolvierte ich eine Ausbildung zum Bürokaufmann. Die Lehrstelle besorgte mir mein Vater, ohne vorherige Absprache, da ich mich nach bestandenem Hauptschulabschluss (Note 3,2) nicht konstruktiv und gewinnbringend genug an Diskussionen beteiligte, die meine Zukunftsplanung betrafen. Ich war noch keine 15 Jahre alt, hatte sehr lange Haare, hörte The Cream, The Doors, spielte Fußball, und mein erster Zungenkuss lag gerade hinter mir. Die Berufswahl, die mein Vater freundlicherweise für mich getroffen hatte, gehört zu den zahlreichen Nacken- und Tiefschlägen, die das Leben für mich bereit hielt.
Im Grunde war ich noch ein halbes Kind mit wunderschönen langen schwarzen Haaren. Ich sah mich eher als Student der Philosophie oder kiffend auf Open-Air-Konzerten. Ich saß nun aber leider mit einem weißen Kittel bekleidet in einem Büro der Reparaturannahme eines westfälischen Autohändlers und schrieb Rechnungen auf einer IBM-Schreibmaschine mit Kugelkopf.
Auf Grund meiner langen Haare hielten mich die Angestellten der Abteilung vom direkten Kundenkontakt fern. Ich verbrachte daher viele einsame Stunden in der Registratur. Beim Abheften von Rechnungen und Verträgen überlegte ich, wie ich meine deprimierende Situation ändern könnte.
Da mich ein Großteil der Kollegen wegen meiner langen Haare nicht wirklich ernst nahmen, zog ich einmal sogar in Erwägung, in einem Kleid zur Arbeit zu erscheinen, um meinen Arbeitskollegen noch mehr Anlass zu bieten, mich auszugrenzen. Insgeheim hoffte ich natürlich auf eine Entlassung. Leider war ich als junger Knabe nicht mutig genug, um in die Stadt zu fahren und mir ein Kleid zu kaufen. Im Kleiderschrank meiner Mutter hingen zwar einige Teile, aber leider nicht in meiner Größe. Auch war die Farbwahl meiner Mutter für mich zu bunt und folkloristisch.
Begrabt mein
Herz in Wuppertal
Ich beschloss daher, meine Lehre drei Jahre lang klaglos zu ertragen, und als eine Prüfung zu begreifen, eine Prüfung, der man sich nicht entziehen kann. Dieser Selbstbetrug funktionierte im Laufe meines Lebens immer häufiger. Als ich meine Lehre mit der Note „Befriedigend“ abschloss, packte ich nicht etwa meine sieben Sachen, um mit meinen langen Haaren nach Goa in Indien zu reisen, sondern nahm eine Stelle in einem Autohaus an. Ich redete mir ein, die Entscheidung, in meinem gelernten Beruf weiter zu arbeiten, sei auch als Prüfung zu verstehen, und irgendwann käme der Tag, an dem mich eine überirdische Macht für meine Standhaftigkeit belohnen würde, ein so schmuckloses und freudloses Leben als Bürokaufmann geführt zu haben.
Und tatsächlich führte mich irgendwann eine überirdische Macht langsam aus dem Schatten der beruflichen Bedeutungslosigkeit. Ich kann die vielen wunderschönen Erlebnisse und Wendungen, die mein Leben plötzlich so kreativ, erfolgreich und glücklich machten, gar nicht alle aufzählen. Zweifellos gehört aktuell meine wöchentliche Kolumne dazu, die ich an dieser Stelle schreiben darf. Allerdings bleibt mir ein Erlebnis aus meiner Zeit als Mitglied der Wuppertaler Rockgruppe „Armutszeugnis“ unvergessen. Bei einem Auftritt hier an der Uni im Jahre 1980 hatten wir eine Vorgruppe aus Köln: Am 4. Oktober kommt übrigens BAP wieder nach Wuppertal.