Forscher arbeiten gegen Gedrängel an
In einem Experiment an der Uni zeigten Wissenschaftler, wann es zu gefährlichen Situationen in einer Menschenmenge kommt.
Bei Großveranstaltungen kommt es immer wieder zu lebensgefährlichem Gedrängel. Schnell denkt man an die Loveparade-Katastrophe. Erst vergangene Woche führte der Auftritt des Youtube-Stars Mike Singer in der Elberfelder Innenstadt zu einem Massenauflauf und verletzten Fans. Doch schon das Konzert einer x-beliebigen Band kann im Gedränge enden.
Eine solche Konzertsituation wurde in der Woche des Mike Singer-Auftritts als Experiment an der Bergischen Universität nachgestellt. An drei Tagen gingen Forscher der Uni Wuppertal, der Uni Bochum und des Forschungszentrums Jülich folgenden Fragen nach: Wie und wann kommt es zu Drängeln? Welche Faktoren können die Bereitschaft zum Drängeln auslösen? Wie lassen sich Fußgängerströme beeinflussen?
Die „Konzertbesucher“ wurden im Foyer des Gebäudes K von Studenten der Uni Wuppertal dargestellt. In den Pausen zwischen den Vorlesungen wurden sie durch eine Einlasszone mit Absperrgittern geschleust. Jedes Mal machten Projektleiter Armin Seyfried und Anna Sieben zwei Durchgänge. Zunächst erzählten die beiden den Studenten, dass nur die ersten einen guten Platz ergattern können. Im zweiten Durchgang wurde den Probanden versichert, „dass Sie alle einen Platz vorne an der Bühne bekommen“.
Nach dem Experiment erhielt jeder Teilnehmer einen Fragebogen in die Hand gedrückt. Dort waren Fragen zu beantworten wie „Wie gerecht ist der Einlass abgelaufen?“ und „Wie wohl haben Sie sich in der Menschenmenge gefühlt?“
Die Wirtschaftsstudentin Julia (20) hatte mit rund 60 anderen Probanden am Experiment teilgenommen. „Einmal wurde ich Richtung Gitter gedrückt“, beschrieb sie den ersten Durchlauf. „Das war unangenehm, beklemmend. Wenn ich mir vorstelle, dass da noch mehr Leute sind, hätte es schlimmer sein können. Dass man Platzangst bekommt.“ Ihr Studienkollege (21) empfand das Gruppenverhalten im zweiten Durchlauf als „viel gesitteter“. „Es war einem bewusst, dass man sich da nichts erkämpfen musste.“
Es braucht keinen Druck — dieses Bewusstsein muss vor jeder realen Einlass-Situation geschaffen werden, lautet die Schlussfolgerung der Forscher. Durch beruhigende Ansagen — wie im zweiten Teil des Experiments— lässt sich die Motivation einer Menschenmenge beeinflussen. Das Drängeln, das im ersten Durchgang aufkam, sei das Problem, betont Seyfried. Nicht erst die Panik, die im Gedrängel aufkommen kann.
„Wenn die Leute sehr stark drängeln, kann es zu Verkantungen kommen“, führt Sieben aus. Die Konsequenz sei, dass „am Ende weniger Leute rauskommen, obwohl sie stärker drücken.“ Als zusätzlichen Risikofaktor machen die beiden die Unübersichtlichkeit innerhalb einer Menschenmenge aus. Je unübersichtlicher es werde, so ihre Beobachtung, desto stärker drängelten Probanden von hinten nach.
Die Uni-Experimente haben dem Forscherteam deutlich gemacht, dass die Position der Absperrgitter ebenfalls das Verhalten beeinflusst. Ein schmaler Durchgang, erklärt Sieben, führe direkt zur Bildung einer Warteschlange. Der psychologische Effekt sei, dass die Leute sich innerhalb der Schlange rücksichtsvoller verhielten. Bei einem breiten Durchgang können die Leute im Pulk stehen. Das ist für manche ein Anreiz, sich durchzudrängeln. Die Zahl der Teilnehmer spielt übrigens keine Rolle. Auch bei Experimenten mit deutlich weniger als 60 Probanden, stellt Seyfried fest, sei „unglaublich gedrängelt“ worden.
Die Verbindung zwischen ihren Experimenten und den Loveparade-Ereignissen von 2010 liegt für Seyfried und Sieben auf der Hand. Ihr Forschungsprojekt hat allerdings einen viel längeren Vorlauf. „Das geht eigentlich zurück auf den 11. September 2001“, sagt Seyfried. Nach den Anschlägen in New York sei zivile Sicherheitsforschung in den Fokus der Bundesregierung gerückt und entsprechend gefördert worden.
Die Erkenntnisse aus den Experimenten sollen künftig in eine Methode einfließen, mit der sich Menschenmengen bei Veranstaltungen aller Art vom gefährlichen Drängeln abhalten lassen. Laut Seyfried ist das Interesse von Veranstalterseite schon jetzt groß. „Ich hoffe, dass wir in einem Jahr eine Studie vorlegen können - mit Ergebnissen, die reproduzierbar und belastbar sind.“