Was glauben Sie denn? Von Wut und Vetrauen
Ruth Tutzinger, Vorsitzende des Gemeinderates der Jüdischen Kultusgemeinde Wuppertal, über Wut, Hass, Vertrauen - und Hoffnung auf ein besseres 2021.
Gottes Segen für das Jahr 2021 wünschen die Juden in Wuppertal allen Bürgerinnen und Bürgern der Stadt! Heute, am 15. Januar 2021 begehen die Juden in der ganzen Welt den dritten Schabbat in diesem bürgerlichen Jahr. Auch am Schabbat ist es den Juden weltweit ein Anliegen, für das Wohl des Landes und der Stadt, in der sie leben, zu beten. Dieser Brauch ist sehr alt und geht auf eine Empfehlung des Propheten Jeremia (29, 4-14) zurück, der damals den nach Babel verschleppten Judäern nahelegte, auch für den Frieden und das Wohl Babels zu beten. Er machte ihnen klar, dass sie schließlich in einer Stadt, in der Frieden und Wohlergehen herrscht, unbehelligt leben können. Diesen Rat haben die meisten Juden bis heute verinnerlicht. Sie respektieren die Gesetze und sprechen die Sprache des Landes, in dem sie leben, bewahren aber ihre religiöse und kulturelle Identität. Leider hat das Gebet sie oft nicht vor Verfolgungen geschützt, aber sie haben diesen Brauch nicht aufgegeben.
Auch Christen machen immer wieder die Erfahrung, dass ihre Gebete kein Gehör finden. Manche wenden sich dann enttäuscht ab von diesem Gott, der seine Schöpfung vermeintlich „verrotten“ lässt. Hat ER uns dieses Virus geschickt oder haben wir unsere Böden vergiftet und die Meere verseucht oder eventuell mit Sachen experimentiert, die wir nicht beherrschen? Worauf sollte unsere Enttäuschung, ja unsere Wut sich richten? Was haben die Menschen früher gemacht, wenn sie ratlos waren?
Vor drei Wochen habe ich ihnen ein wenig über die Geschichte der Psalmen berichtet. Ich habe mich dabei auf die positiven Aspekte bezogen, weil wir alle vor bedrückend eingeschränkten Feiertagen, wir in den Chanukka-Feiertagen, Sie vor Weihnachten, Silvester und Neujahr, standen. Da brauchten wir alle etwas, das uns Zuversicht vermittelt und unserer Freude aufhilft. Gebetete oder gesungene Psalmen, mit den uns sehr vertrauten Texten, können dazu eine große Hilfe sein.
Inzwischen hat uns wieder der Alltag eingeholt und manche erhoffte Änderung, die schon recht nahe schien, ist wieder in ziemlich weite Ferne gerückt. In vielen Menschen steigt die Ungeduld und schlägt oft um in Verzweiflung und Wut, die sich in den schon erlebten Demonstrationen unheilvoll Bahn bricht.
Schwere, bedrängende Situationen hat es zu allen Zeiten gegeben. Minderheiten und vor allem die Israeliten, ein kleines Volk in einer Gegend, über die alle Kriegshorden über die Jahrhunderte hinweg gezogen sind, gerieten immer wieder in große Nöte. Wie gingen die Menschen damit um? Die Lehrer des Volkes hatten dieses auf die Verehrung des einen wahren Gottes eingeschworen. ER, Gott, hatte mit diesem Volk einen ewigen Bund geschlossen. Doch viele Menschen gerieten unter die Räder der Kriegswagen, wurden verschleppt und verfolgt. Sie waren enttäuscht und wütend und diesen Zorn schrien sie ihrem Gott ins Gesicht. Die Israeliten waren immer temperamentvoll und diskussionsfreudig. Sie nahmen kein Blatt vor den Mund (siehe Psalm 94 und andere). Martin Luther nannte diese Psalmen fälschlicherweise „Rache-Psalmen“ und verfestigte damit die Vorstellung des alttestamentlichen Rache-Gottes. Die Menschen, die ihre Wut ihrem Gott vor die Füße warfen, gaben diese Wut ab an eine höhere Instanz. Sie machten keinen Hehl daraus, was sie sich wünschten, aber sie nahmen es hin, dass ihnen durch den Propheten Jesaja (Kap. 55) erklärt wurde: „So hoch der Himmel über der Erde, so hoch sind meine Wege über euren Wegen, ist mein Planen über eurem Planen.“ Sie mussten also auf Gottes Gerechtigkeit vertrauen.
Dieses Vertrauen musste und muss auch heute noch oft weit über das eigene Leben hinausreichen. Aber sie hatten Hass und Rachegelüste abgegeben und damit ein kostbares Stück innerer Freiheit und Gelassenheit gewonnen, denn Hass verzehrt den Hassenden und nimmt ihm jede Menschenwürde.
Wenn wir heute diese „grimmigen“ Texte lesen, können auch wir ein Stück Klarheit über unsere eigene Position gewinnen. Wir können erkennen, wo das Handeln unserer Generation zu Irrwegen geführt hat. Mancher wird die Vorwürfe und Forderungen der jungen Leute heute vielleicht besser verstehen und versuchen sie zu unterstützen bei dringend notwendigen Veränderungen.
Kurzfristig werden wir Hasser und Zerstörer nicht aus der Welt schaffen können, aber in dem Maße, in dem wir uns nicht auf ihre Ebenen herunterziehen lassen, sondern ihnen Geduld und konstruktives Handeln entgegensetzen, werden wir ihnen hoffentlich den Wind aus den Segeln nehmen.
Gottes Gerechtigkeit hat einen langen Atem. Zunächst sind wir gefordert, endlich die Möglichkeiten für eine gerechtere Welt zu schaffen. Hoffen wir wider allen Augenschein, dass die Pandemie uns 2021 diesem Ziel ein wenig näher bringt.