Meine erste Platte Die Anarchie des kleinen Mannes

Damals ist es schon nicht sehr leicht gewesen, aus seinem Musikgeschmack keinen Hehl zu machen. Aber es wurde schwerer. Die „Scorpions“ haben es ihren Fans nie leichtgemacht. Dabei ist „Tokyo Tapes“ ein wirklich starkes Doppelalbum.

WZ-Chefredakteur Lothar Leuschen mit seiner ersten Schallplatte: „Tokyo Tapes“ von den „Scorpions“.

Foto: Fischer, Andreas H503840

Die „Scorpions“ haben sich schon immer missverstanden gefühlt. Ihren Fans ging es allerdings nicht besser. Doch während die Anhänger der Skorpione in Ehren ergrauten, buchten die Musiker eine Frischzellenkur nach der anderen und wurden, um es offen zu sagen, dabei nicht unbedingt besser.

Aber in den 1970er Jahren waren sie gut. Das war die Dekade, in der sogenannter Krautrock den Weg über die Staatsgrenzen sogar nach Großbritannien fand. Zugegeben, den großen Durchbruch haben Bands wie „Wallenstein“, „Birth Control“ und „Guru Guru“ nie gefeiert. Sie tanzten ein, zwei Sommer, dann war das Wunder auch schon wieder Geschichte. Nicht so die „Scorpions“. Sie hatten für sich einen Weg in die Hallen der Welt vorgezeichnet, und sie sind ihn mit akribischer Arbeit, trotz aller Rückschläge, gegangen. Vielleicht waren die Hannoveraner um Sänger Klaus Meine und Gitarrist Rudolf Schenker neben der Düsseldorfer Band „Kraftwerk“ die ersten, die begriffen hatten, dass Erfolg auch im Musikgeschäft planbar ist. Insofern beschreibt das 1978 erschienene Live-Album der Scorpions eine Zäsur. Die zwei Schallplatten sind so etwas wie die Retrospektive auf die ersten zehn Jahre der Band. Songs wie „Fly to the Rainbow“, „We’ll burn the Sky“ und „In Trance“ sind nicht nur wunderbare Kompositionen der Krautrock-Ära. Sie dokumentieren gleichzeitig auch den damals noch verzweifelten Versuch der Rocker, mit ihrer Musik nicht nur im mentalitätsähnlichen Japan die Hallen füllen zu können, sondern auch in Frankreich, Großbritannien und natürlich in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dass dies letztlich gelang, ist einem Stilwechsel zu verdanken. Die Musik der Hannoveraner wurde internationaler, westlicher, eingängiger, unkomplizierter und versehen mit einem hohen Wiederkennungswert. Das grobe, schmutzige, bisweilen vielleicht bemüht klingende Buhlen um Radiotauglichkeit verschwand dafür.

Deshalb ist „Tokyo Tapes“ noch heute eine Schallplatte, die als Live-Aufnahme aus einer restlos ausverkauften Halle in der japanischen Hauptstadt davon zeugt, dass „The Scorpions“ eine deutsche Rockband sind. Das hat es in den 1970er Jahren schwergemacht, sich als Fan zu erkennen zu geben. Damals waren noch Led Zeppelin, Deep Purple, Judas Priest und Black Sabbath en vogue. Hard Rock aus Deutschland? Provinzgeschrabbel. Mit Tokyo Tapes und Alben wie „Taken by Force“, „Fly to the Rainbow“ und „Virgin Killer“ hatten Meine und Co. zwar längst bewiesen, dass Rock made in Germany ins Gebein gehen kann und dank Virtuosen wie Uli Roth an der Gitarre internationalen Ansprüchen genügen könnte, aber zu deutsch war eben zu wenig international. Die weit überwiegende Fangemeine teilte das Schicksal der Band. In der pubertären Damenwelt waren pubertäre Hardrocker nicht sonderlich angesagt, erst recht nicht, wenn sie Rock made in Germany frönten. Auf den Plattentellern in den Partykellern der jungen Womanizer drehten sich die Scheiben der „Bay City Rollers“, der „Bee Gees“ und John Travolta mit Olivia Newton-John.

Die Scorpions haben Ende der 1970er Jahre ab dem Album „Lovedrive“ die Konsequenzen gezogen und mit „Animal Magnetism“ dem Deutschrock endgültig abgeschworen. Wie sehr sie sich internationalisieren konnten, zeigt „Winds of Change“, das sie dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa und dessen Protagonisten Mikhail Gorbatschow gewissermaßen auf den Leib schrieben. Spätestens damit sind die Hannoveraner eine internationale Band geworden – spätestens mit diesem Song haben sie ihre Deutschrock-Fans in die Rente geschickt. Für die ist es immer ein bisschen peinlich geblieben, die Scorpions einmal richtig gut gefunden zu haben. Aber mit der Musik der Niedersachsen hatte sich der Grund dafür geändert. Die war und ist nicht wirklich schlecht, aber glatt, konstruiert, auf Verkaufszahlen gebürstet. Berechenbar. Austauschbar.

Tokyo Tapes ist und bleibt dagegen ein starkes Live-Album, ein richtig gutes Stück deutscher Hardrock-Geschichte mit kraftvoller Musik und gefühlvollen Texten. Höchste Zeit, es mal wieder auf den Plattenteller zu legen…