Kultur Angenehm betäubt?
Kunst und Kultur scheinen durch die Pandemie vollständig im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit angekommen. Dabei droht ihnen nicht nur der Verlust ihrer Aura, sondern sind sie selbst existenziell bedroht.
Beim letzten Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker gab es eine technische Innovation: 7000 Menschen auf der ganzen Welt hatten sich zuvor registrieren können, um am Ende des Konzertes via Handy Applaus zu spenden. Es muss ein gespenstischer Moment gewesen sein, als dem Dirigenten Ricardo Muti und dem Orchester im leeren Goldenen Saal des Wiener Musikvereins dieser virtuelle Applaus eingespielt wurde. Die „Polka schnell“ von Strauss, kommentierte Muti, sei „wie ein rasanter Zug, der in einem Bahnhof einfährt. Da erwartet man, dass jemand dort auf einen wartet und reagiert“.
Eine solche Reaktion vermissen nicht nur Künstlerinnen und Künstler, die für diesen Austausch leben, sondern wir alle. „Nicht das Verfügen über Dinge, sondern das in Resonanz Treten mit ihnen, sie durch eigenes Vermögen – Selbstwirksamkeit – zu einer Antwort zu bringen und auf diese Antwort wiederum einzugehen, ist der Grundmodus lebendigen menschlichen Daseins“, schreibt der Soziologe Hartmut Rosa in seinem aktuellen Buch „Unverfügbarkeit“. Darin entfaltet er, dass sich Resonanz eben nicht instrumentell herstellen, nicht verfügbar machen lässt. Gerade in unserem Bestreben, die Welt immer und überall in Reichweite zu bringen, droht sie uns stumm und fremd zu werden.
Kunst und Kultur scheinen durch die Pandemie vollständig „im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“ angekommen. Dabei droht ihnen nicht nur, wie bei Walter Benjamin, der Verlust ihrer Aura, sondern sind sie selbst existenziell bedroht. – Noch produzieren wir. Allerorten wird geprobt, geübt, wieder verschoben und ausgeharrt. Doch ohne die Begegnung mit dem Publikum verlöschen Kunst und Kultur. Sie ist ihr Glutkern.
Das Versenden von Kulturereignissen in die Welt des Netzes, die virtuelle Aufführung – wenn es zu ihr kommt – hat den Charakter eines Redens vor eine Wand. „Hello, hello, hello“, beginnt mit einem Echo einer der berühmtesten Songs von Pink Floyd, auf ihrem Konzeptalbum „The Wall“: Ist da jemand hinter der Wand? Er handelt vom Musiker Pink, der sich nicht in der Lage fühlt, aufzutreten. Ein Arzt wird herbei gerufen, der ihn mittels einer Spritze schnell auf die Beine bringen soll, damit das teure Konzert nicht abgesagt werden muss. Doch der Künstler will nicht, fühlt sich „Comfortably numb“ – angenehm betäubt. Als der Arzt ihm schließlich seine Injektion verabreicht, gleitet der Patient vollends ab in den Wahn, ein faschistischer Agitator zu sein, der Selbsthass und Verzweiflung kompensiert, indem er gegen Minderheiten hetzt. Die Resonanz ist futsch. Der Künstler baut sich seine eigene Welt.
Kommenden Freitag bis Sonntag werden die Schauspielerin Julia Wolff und die Kamerafrau Laura-Alina Blüming wieder wie vor einer solchen Wand spielen. Auch wenn unsere Engelsmaschine „Ich kann des Nachts nicht schlafen vor lauter Ideen des Jahrhunderts“ als Hybrid zwischen Theater und Film konzipiert ist, hätten wir uns in der Börse anwesendes Publikum sehr gewünscht. Tickets und Live-Erlebnis gibt es nun über www.dringeblieben.de, die Aufführungen beginnen jeweils um 19.30 Uhr.
Wir alle leben gerade als Gesellschaft wie hinter einer Mauer. Wir kratzen an ihr, geben Klopfzeichen, stecken Botschaften in ihre Ritzen und Risse, lauschen – und fantasieren, was hinter ihr sein wird. Noch wächst sie. Schauen wir, dass sie nicht zu hoch wird. Der Sommer muss es bringen. Die Mauer wird fallen.
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