Kultur Warum Abwarten nicht Warten heißt
Fenster auf fürs Hofkonzert, appelliert Max Christian Graeff vom Freien Netzwerk Kultur.
Ungewohnte Töne drangen durchs Fenster, ein Kreischen und Lachen, ein Albern und Jagen, und etwas rumpelte den steilen Berg herab. Alltag in einer Schulstraße, doch so lange nicht gehört … Sie sind also wieder da, dachte ich am Schreibtisch, bis mir auffiel, dass es elf Uhr abends war. Seit Stunden hatte ich nicht mehr rausgeschaut. Die Welt war weiß, es schneite noch weiter, doch schon war‘s wieder still und die Kinderhorde wohl nur auf dem Weg ins Bett. Am Morgen taute es bereits; im Radio lief ein Bericht über ausgelastete Krematorien. Auch wenn die Bestatter gerade alle Hände voll zu tun haben, so fallen ihnen doch viele Aufgaben weg, die den Abschied weniger nüchtern machen: das Planen von Trauerfeiern und Leichenschmäusen und damit auch das Vermitteln von Abschiedsreden, von einfühlenden „letzten Worten“, mit denen seit der Abnahme kirchlicher Bindungen oft auch freie Autoren und Autorinnen beauftragt wurden. Selbst wenn es dann wieder möglich ist, werden viele denken: Lassen wir‘s doch fort; es geht ja auch so.
Mehrmals am Tag fallen mir Umstände, Handlungen und Gewohnheiten auf, die sich mit der Zeit ändern, ob leise oder lauter, und die sich seit nun fast einem Seuchenjahr bereits geändert haben. An der Wand ein Plakat des Lokals Simonz mit den Terminen für März 2020, auf dem ich unter dem Slogan „Trink, was du nicht lesen kannst“ mit Büchern und Schnaps posieren durfte. Es hing nicht lange und beendete eine Serie von etwa 100 Monatsplakaten zu Konzerten und anderen Ereignissen.
Vorhin schaute ich mal nach, ob das Lokal noch lebt: Wie auch bei anderen ist die Webseite noch da, steht jedoch nachrichtenfrei und still im Winterwind. Die Wirte sind erschöpft darin, zu sagen, dass es bezüglich des Ungewissen nichts Neues gibt. Und ich habe ein schlechtes Gewissen, als Schreibender nicht angeregt zu haben, den Slogan umzudrehen: „Lies, was du nicht trinken kannst!“ Wenn uns die Lokale zumindest mit Texten und trunkener Musik versorgen würden, in der Zwischenzeit. Sie können es natürlich nicht leisten und die Künstler auch kaum, denn wir paddeln alle von Miete zu Miete durch den Nebel des scheinbar endlosen Jetzt. Aber gut wäre es schon und das Unterlassen wurmt mich, im eigenen Wurmloch sitzend.
Als solches bezeichnet die Physik ein theoretisches Gebilde in der Relativitätstheorie. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, diese im Lockdown zu ergründen. Ehrlicherweise kam ich nicht weit; die nichteuklidische Geometrie wird mir auf immer ein Rätsel bleiben, wie die Zeit an sich. Außer dass sie ständig vor uns wegläuft – oder wir vor ihr?
Im Morgenmagazin besprach man vorhin das Andrücken der Masken-Nasenbügel, als hätten wir in fast einem Jahr nichts gelernt. Das mentale Innehalten ist überflüssig wie alle Artikel des Feuilletons darüber; die Welt rauscht weiter in Not und Wendigkeit. Wer jetzt nicht draußen in versorgenden Berufen Hochleistung bringen muss, im Online-Stress versinkt oder nimmersatte Kinder bekocht, kann dennoch an der Kultur der Veränderung arbeiten: Im eigenen Raum kontinuierlich an der Uhr zu drehen sind wir uns selbst schuldig. Auch in diesem Sinne: Fenster auf fürs Hofkonzert! Irgendwas bewegt sich dort draußen immer. Zeigen Sie den Wohnungslosen, dass Sie sie nicht vergessen haben. Schreiben Sie Ihrem Lieblingswirt. Diskutieren Sie mit dem Patenkind die Not der Flüchtenden, den Zorn der Egomanen, den Klimawandel im Kleinhaushalt oder einfach, was Denken mit Raum und Zeit zu tun hat. Und schon geht es weiter – bis es dann weitergeht.