Jörg Aufenanger und die Flucht des Heinrich von Kleist
Der Wuppertaler schreibt über den „radikalsten Dichter seiner Zeit“. Sein neues Buch stellt er am 29. März im Literaturhaus vor.
Herr Aufenanger, Sie haben offensichtlich ein Faible für die großen Denker ihrer Zeit. Sie haben Ihren Lesern bereits Friedrich Schiller, Heinrich Heine und Christian Grabbe näher gebracht. Wie kamen Sie nun auf Heinrich von Kleist?
Jörg Aufenanger: Da ich mich mit den literarischen Gestalten um 1800 befasst habe, die in einer exemplarischen Umbruchzeit gelebt haben, als sich die Welt in Folge der Französischen Revolution stark veränderte, konnte es nicht ausbleiben, dass ich auch auf Kleist verfiel. Er ist auch einer der ersten „modernen“ Autoren, der sein ganzes Leben in einem Zwiespalt lebte, da die Welt sich aufspaltete und den Menschen zunehmend von sich entfremdete. Ich halte ihn neben Grabbe für den bedeutendsten deutschsprachigen Theaterautor.
Kleist ist in der Forschung alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Was unterscheidet Ihr Buch von anderen Kleist-Betrachtungen?
Aufenanger: Man hat mich auch gefragt, ob ich eine Biografie zu Kleist schreiben wollte. Das wollte ich nicht, da es so wenige Zeugnisse zu seinem Leben gibt und man auf Vermutungen angewiesen ist. Ich wollte nur eine biografische Einzelheit, wie im Goethe-Buch, beschreiben — eben jene 40 Tage, die Kleist bei Wieland in Oßmanstedt nahe Weimar verbrachte. Kleist war Anfang 1803 als Autor noch völlig unbekannt und hatte gerade mit der „Familie Schroffenstein“ sein erstes Schauspiel verfasst. Da kam er bei Christoph Maria Wieland an, dem bedeutendsten Schriftsteller seiner Zeit und „Literaturpapst“ der Epoche, von dem er anerkannt werden wollte. Und der adelte ihn als Dichter. Außerdem kam es in Oßmanstedt zu einer kurzen, aber heftigen Liebe zwischen Louise, einer Tochter Wielands, und Kleist, die den innerlich zerrissenen Schriftsteller allerdings nicht halten konnte. Er floh.
Was genau unterscheidet Kleist von anderen Dichtern seiner Zeit?
Aufenanger: Er war neben Christian Dietrich Grabbe der radikalste Dichter seiner Zeit, der schonungslos auch gegen sich selbst dichtete und dabei auch im Gegensatz zu den Klassikern und den Romantikern den Menschen als gefährdetes, ja auch als unmenschliches Wesen darstellte — bei aller universellen Liebe zum Menschengeschöpf.
Wie sind Sie an das Kleist-Projekt herangegangen?
Aufenanger: Projekt würde ich das nicht nennen. Ich wollte einfach eine Geschichte aus Kleists Leben erzählen, die für ihn konstitutiv war, da in diesen 40 Tagen alles sichtbar wurde, was sein Dichten und sein Wesen ausmacht.
Sie sind gebürtiger Wuppertaler, leben heute aber in Berlin. Was denken und empfinden Sie, wenn Sie die Heimat aus der Ferne betrachten?
Aufenanger: Ich schreibe gerade meine Kindheit der ersten zehn Jahre in Wuppertal auf — eine glückliche Zeit. Danach habe ich die Stadt verlassen und bin später wieder für einige Jahre zurückgekehrt. Die Stadt hat eben, wie Paul Pörtner sagte, eine immense Klebe- und Prägekraft. Ich kann mir aber nicht mehr vorstellen, dort zu leben, da Berlin, selbst wenn ich die Stadt nie als Heimat empfinden werde, ununterbrochen Anregungen gibt, die keine andere deutsche Stadt geben kann.
Sie stellen Ihr Buch am 29. März im Literaturhaus vor. Wie wichtig sind Lesungen im Leben eines Buchautors — sind Sie „nur“ ein unverzichtbares Rädchen in der Werbe-Maschinerie oder eine wichtige Möglichkeit, neue Impulse zu erhalten?
Aufenanger: Lesungen aus meinen Büchern bereiten mir einfach nur Vergnügen.
Welches Buch liegt auf Ihrem eigenen Nachttisch, und welches neue Projekt haben Sie bereits im Kopf?
Aufenanger: Wie immer eines der Bücher meines Lieblingsautors Patrick Modiano, derzeit „Die Gasse der dunklen Läden“, das ich zum wiederholten Mal lese. Ich bin dabei, eine Trilogie über das Leben in Paris — wo ich selbst einige Jahre gelebt und gearbeitet habe — in den verschiedenen Passagen des 20. Jahrhunderts zu vollenden.