„Nelken“: Heiterer Balanceakt im Blütenmeer
Ein Stück über die Liebe eröffnete die Saison im Schauspielhaus. Pina Bausch wurde an vier Abenden gefeiert – genauso wie das Wiedersehen mit Lutz Förster und Dominique Mercy.
Wuppertal. Die Liebe ist ein zartes Pflänzchen. Wer sie behutsam gießt, blüht selbst auf. Wer sie stattdessen mit Füßen tritt, trampelt auf den Gefühlen anderer herum - und geht am Ende womöglich selbst ein. Dabei braucht es nicht einmal blumige Worte, um die Spielwiese der Liebe als einen schier unergründlichen Irrgarten zu entlarven. Das Wuppertaler Tanztheater schafft das ohne große Worte - sondern mit vielen kleinen, liebevollen Gesten.
Längst ist das Blumenmeer, das Bühnenbildner Peter Pabst erstmals 1982 erblühen ließ, so berühmt wie das Tanztheater selbst. Und auch 26 Jahre nach der Uraufführung bekennt Pina Bausch Farbe und lässt rosarote Blüten sprechen: "Nelken", zur Saisoneröffnung an vier Abenden hintereinander im Schauspielhaus zu sehen, ist ein Stück über Autorität und Anarchie, Liebeslust und Liesbesleid.
Wer die eigene Phantasie blühen lässt, erkennt schnell die heikle Balance der Stimmungen. Denn auch wenn Pina Bauschs Stück zu ihren heitersten zählt, spiegelt der zweistündige Abend alle Facetten des (Liebes-)Lebens - vom ersten zaghaften Lächeln bis zur letzten Stufe tiefer Verzweiflung.
Die sieht so aus: Tänzer träufeln sich mit Kinderschaufeln Erde auf den Kopf - so, als fühlten sie sich lebendig begraben. Dabei ist die Liebe oft nur einen Herzschlag entfernt: Wie schönste Musik klingt es, wenn sich die Tänzer gegenseitig ein Mikrofon vors Herz halten. Gibt es ein persönlicheres Bekenntnis als den eigenen Pulsschlag?
Wer auf sein Herz hört, hat es trotzdem nicht einfach. Das Wuppertaler Ensemble demonstriert es mit dem gewohnten Witz. Wie kleine Kinder tauschen Männer beim Ringelpiez mit Anfassen Deeskalations-Strategien aus: Wenn Ärger in der Luft liegt, verdrückt man sich am besten. "Oder ich mache ich auf sensibel. Auf jeden Fall stelle ich alle kostbaren Gegenstände zur Seite."
Wie es ist, (nicht nur nach einem Streit) den Boden unter den Füßen zu verlieren, wissen vier Herren am besten: Die Stuntmänner springen aus luftiger Höhe auf einen Berg Pappkartons. Auch Dominique Mercy erlebt einen tragikomischen Drahtseilakt inmitten der alltäglichen Abgründe: Andrey Berezin, der von seinen Kollegen die Pässe verlangt, stempelt ihn zum Versuchstier ab und lässt ihn Hund, Frosch und Papagei imitieren.
Amtsanmaßung auf der Blumenwiese: Das Thema Freiheit und Passkontrolle ist so aktuell wie vor mehr als 20 Jahren. Auch der Einsatz von Lutz Förster bewegt wie einst: Er treibt das Ensemble an und gibt den bellenden Ballettzuchtmeister ("Guckt nicht so bescheuert", "Ich hasse Nelken"), bis er seinen Auftritt vom Anfang wiederholt, aufrecht im Blumenmeer badet und den Text von "Someday he’ll come along, the man I love" in Gebärdensprache übersetzt.
Pina Bausch verbindet Poesie und Lebensalltag, alte Schlager, südamerikanische Märsche und Jazzmusik. Dazu tanzt das Ensemble mit Tischen und Stühlen, mit Leichtigkeit und Melancholie. Einem Teil der Tänzer kommen sogar die Tränen. Oder können Männer nur weinen, wenn sie ihr Gesicht in Zwiebeln wälzen? Tatsache ist: Männer schneiden Zwiebeln, Frauen lassen sich füttern. All das ist wie immer Ansichtssache: Ein Mann reicht einer Frau eine Orange. Geht Zuneigung durch den Magen - oder stopft er ihr nur den Mund?
Liebe wächst. Liebe verblüht. Und vor allem: Liebe kann man nicht erklären. Aber eines steht fest: Wuppertal liebt "sein" Tanztheater. Am Ende ist das Nelkenmeer zwar zertrampelt - aber das Publikum begeistert.