Schiff ahoi: Theater auf hoher See

„Novecento“ als Schauspiel: Hendrik Vogt entführt seine Gäste auf einen alten Ozeandampfer.

Wuppertal. Es ist das Gegenteil von dem, was showerfahrene Kreuzfahrer auf gediegenen Luxus-Dampfern erwartet. Es gibt keine elegant uniformierte Live-Band, keine strahlenden Hintergrund-Sängerinnen in Glitzerkleidern, keine samtweichen Sessel. Nur ein gewöhnliches Klavier, einen kärglich angedeuteten Bar-Bereich und eine einsame Figur, die ins Wanken und Schwanken gerät — nicht wegen des Wasser-, sondern wegen des Alkoholpegels.

Hendrik Vogt gelingt der Balanceakt: Der Schauspieler, der „Die Legende vom Ozeanpianisten“ nicht etwa laut polternd hinausposaunt, sondern mit leiser, aber sicherer Stimme vorträgt, sticht auf seine Weise in See.

Zwar fehlt im Kleinen Schauspielhaus naturgemäß der Wellengang. Ansonsten aber fahren die Wuppertaler Bühnen alles auf, was die Reiselust fördert und die Phantasie beflügelt. Ein feinfühlig erzählender Darsteller, sein perfektes Timing und ein gebanntes Publikum: Vom Start weg entpuppt sich „Novecento“ als ein fesselndes Solo-Stück, mit dem Hendrik Vogt alias Tim Tooney mehr als hundert Jahre zurückblickt: Der Trompeter schwärmt von seinem Pianisten-Kollegen Novecento, der auf einem Ozeandampfer geboren wird und ihn nie wieder verlässt.

Vogt, der nicht zum ersten Mal alleine brilliert und nach einer Medien-Satire („Das Produkt“) nun die zweite One-Man-Show präsentiert, füllt die spartanisch dekorierte Bühne mühelos aus — ohne jeden menschlichen Mitstreiter. Einen mechanischen „Mitspieler“ gibt es dafür: Eine Windmaschine hat einen kurzen Auftritt — und sichtbare Folgen. Wenn sich Vogt mit rudernden Armen nach vorne kämpft, sich mehr im Zeitraffer als im Eiltempo gegen die Luftwellen stemmt, trotzdem an Standhaftigkeit verliert und sich mühsam über den Boden schlängelt, auf dem die Notenblätter aufgewirbelt werden, spürt man ihn förmlich: Der Sog der Natur ist übermächtig.

Regisseur Thomas Ulrich arbeitet mit schlichten, aber eindrucksvollen Bildern — und vertraut auf die Kraft der Vorstellung, die Vogt in den Augen, Ohren und Herzen seiner Zuhörer aktiviert.

Der 27-Jährige nutzt seinen Raum und lotet verschiedene Stimmungen gefühlvoll aus — mit feinem Gespür für Nuancen. Dabei spiegelt das Äußere das Innere: Tim ist ein Suchender, ein Reisender zwischen den Zeiten und Welten — heruntergekommen, aber nicht total abgestürzt.

Tim trägt eine diffuse Mischung aus altem Anzug und moderner Baseballkappe — den Alkohol immer in Reichweite. Erstaunlich klar sind allerdings seine Gedanken. Wenn Vogt wortgewandt ausmalt, wie ein Klavier mit dem Ozean tanzt, also im Unwetter über das Ballsaal-Parkett rutscht, sieht man die Szenerie regelrecht vor sich — auch wenn sie nur erzählt wird. Und wenn Vogt nachspielt, wie auf jeder Überfahrt ein anderer Amerika entdeckt, fiebert man mit. Gespannt stehen die Überfahrer an Deck. Wer den fremden Kontinent wohl zuerst sieht? „Es ist keine Frage der Dioptrien, nein, es ist Schicksal“, meint der Trompeter in jener Mischung aus lapidarer Alltäglichkeit und philosophischer Betrachtung, die das Zuhören so spannend macht.

Der Erfolg des Ganzen basiert auf der Vorlage von Alessandro Baricco. „Novecento“ ist nicht nur die Geschichte einer Freundschaft. Der wunderbare Monolog ist vor allem eine Liebeserklärung an die Kunst der Improvisation („Wenn du nicht weißt, was es ist, dann ist es Jazz“) und eine Hommage an musikalische Hingabe („Ragtime — das ist die Musik, nach der Gott tanzt“). Wobei Musik wohltuend sparsam eingesetzt wird: Was zählt, ist in erster Linie die Kraft der Worte. So hat der Abend am Ende alles, was auch showerprobte Kreuzfahrer beeindrucken dürfte.

Schauspieler: 5 von 5
Bühne: 2 von 5
Regie: 4 von 5