Udo Mertens koordiniert die Kammermusikreihe des Sinfonieorchesters seit bald 30 Jahren Das richtige Musikformat in der Krise

Udo Mertens koordiniert die Kammermusikreihe des Sinfonieorchesters seit bald 30 Jahren.

 Udo Mertens ist das Herz der Kammermusikreihe des Sinfonieorchesters.

Udo Mertens ist das Herz der Kammermusikreihe des Sinfonieorchesters.

Foto: Schwartz, Anna (as)

Sie ist das Format für die Coronakrise. Zugleich bringt sie Musiker und Zuhörer einander näher – jedenfalls so weit, wie es derzeit erlaubt ist. „Wir wollen natürlich, dass sich alle wohlfühlen, auf der Bühne und im Saal“, sagt Udo Mertens. Mitbegründer und Kurator der Kammermusikreihe beim Sinfonieorchester – und Flötist. Und deshalb muss jedes der geplanten sechs Konzerte neu feinjustiert und auf 75 Minuten Länge (ohne Pause) gebracht werden. Das erste ist Anfang Oktober mit großem Erfolg über die Bühne gegangen, bis Mittwoch wurde am Programm des zweiten gebastelt, das für den 30. November terminiert ist.

Kammermusik bedeutete ursprünglich nur, dass sie, im Gegensatz zur Kirchenmusik, in der fürstlichen „Kammer“ gespielt wurde und damit weltlich-repräsentativen Zwecken diente. Im Barock entwickelte sich daraus die Eingrenzung auf reine, klein besetzte, konzentrierte Instrumentalmusik. Der Vorteil: Im Orchester sind die Musiker „kleine Rädchen des Ganzen, bei der Kammermusik sind sie größere Rädchen“, erklärt Mertens. Orchestermusiker werden fast zu Solisten. Ihre Zuhörer wiederum rücken näher, können beim Spiel auf Finger und Mund schauen. Was die gegenseitige Kommunikation fördert.

Die Geschichte der Kammermusikreihe des Sinfonieorchesters Wuppertal begann 1991, als mehrere glückliche „Umstände“ aufeinandertrafen: eine Gruppe junger Sinfoniker, darunter Udo Mertens, die unbedingt mehr als üblich spielen wollten, Opernintendant Wolfgang Binal, der bereit war Geld zu investieren, Intendant Holk Freytag, der sich ebenfalls erwärmte, ein begeisterter Orchestervorstand und Theaterfreunde, die bereit waren, das neue Format zu unterstützen. Naheliegender „Austragungsort“ war das Kronleuchterfoyer der Oper, das damals 99 Zuhörer fassen durfte.

Am 14. Januar 1991 fand das erste Konzert statt, das neue Angebot fand in der Folgezeit immer mehr Anklang („einige brachten ihre Klappstühle mit“), so dass die schmucke Lokalität rasch an ihre Grenzen kam. Noch in den 1990er Jahren zogen die Musiker in den Mendelssohnsaal der Stadthalle, den Mertens nicht nur wegen der wunderbaren Akustik, sondern auch wegen der besonderen Atmosphäre sehr schätzt. „Egal, wo man sitzt, man hört alles. Die Akustik ist phänomenal. Ich bin so dankbar, dass wir dort spielen dürfen.“ Vor 360 Menschen im Normalfall, vor 150 im ausverkauften Kammerkonzert zum Spielzeitbeginn, vor 90 nach heutiger Hygieneschutzvorschrift.

Am Anfang gab der Operndramaturg das Programm der Konzerte vor, schließlich war der Opernintendant mit an Bord. Schnell übernahmen aber die Musiker das „Kommando“, entwickeln selbst Zusammensetzung und Liedzusammenstellung. Heute führt Mertens eine Warteliste, so groß ist das Interesse. Trotz etwa zehn Proben, die ein Kammerkonzert zusätzlich zur normalen Arbeit bedeutet. Das Repertoire sei außerordentlich vielfältig, reiche vom Barock mit Cello, über die klassischen Streicher- und Bläserbesetzungen, die Romantik mit Klavier bis hin zu Jazz oder Programmen mit zwei Schlagzeugen. „Es gibt die großen Klassiker, aber auch ganz entlegene, verrückte Sachen.“ In den ersten Jahren wurden drei bis vier Kammerkonzerte aufgeführt, mittlerweile sind es sechs pro Spielzeit. Ein festes Publikum habe sich gebildet, freut sich Mertens, das Vertrauen habe, mitziehe und auch jetzt die Treue halte, da die Coronakrise das Leben erschwere.

2021 wird die Reihe 30 Jahre alt, nur zweimal sei er nicht dabei gewesen, überlegt Mertens, der die Vorschläge der Kollegen zu einem stimmigen Programm fügt und ansonsten so etwas wie „ein Mädchen für alles“ ist, Notenständer einstellt, Blumen überreicht. Oder nach einem Arzt ruft, wenn im Publikum eine Frau ohnmächtig zusammensackt. Was zum Glück in all den Jahren nur einmal geschehen sei, erzählt er. Ansonsten genießt der Musiker die vielen schönen Momente, zu denen auch das Notenblättern gehört, etwa für Generalmusikdirektor Toshiyuki Kamioka, der am Klavier damals mitwirkte und „so souverän spielte, dass er während des Konzerts Späße machte“. Klar, dass sich Mertens nun wünscht, dass sich auch Patrick Hahn ans Klavier setzt, wenn er ab Mitte 2021 das Wuppertaler Orchester leiten wird.

Auch Kamioka wirkte
bei den Konzerten mit

Die Spielfreude der Sinfoniker hat schließlich zu festen kammermusikalischen Ensembles geführt: dem Johannisberg Quartett (das beim 4. Kammerkonzert spielt), der Camerata Classica, dem Duo d’Or oder dem Martfeld Quartett. Und sie bezieht Künstler ein, die nicht zum Orchester gehören: Sänger, Pianisten oder Schauspieler. In dieser Spielzeit etwa geben Intendant Thomas Braus und Julia Wolff ein Gastspiel.

Nicht zu vergessen das in der Coronakrise geborene kammermusikalische Format „Nur für Sie“, bei dem die Sinfoniker in kleiner Besetzung vor/in Einrichtungen spielen, deren Menschen nicht zu ihnen kommen können. Eine Idee, die auch ohne Corona fortlebt – die Anfrageliste ist lang.