Märchen Der Mensch war und ist das „kostbarste aller Güter“
Ulrike Möltgen hat ein besonderes Märchen für Erwachsene illustriert.
Sie kannten sich von ihrem letzten gemeinsamen Projekt: Für den Verlag Jacoby und Stuart hatte Ulrike Möltgen das Buch „Der Vogelschorsch“ in ihre Bildersprache übersetzt. Und so war sich Edmund Jacoby sicher, dass sie die richtige war, um eine Geschichte zu illustrieren, die ihm Herzensanliegen ist. Der Berliner Verleger übersetzte sie selbst vom Französischen ins Deutsche. Das tiefgründige Märchen befasst sich mit der bis heute unbegreifbar schrecklichen, massenhaften Menschenvernichtung durch die Nationalsozialisten. Sein Autor, der Franzose Jean-Claude Grumberg, wurde dafür ausgezeichnet. Seine deutsche Fassung erscheint unter dem Titel „Das kostbarste aller Güter“ am 28. August.
Vor fünf Monaten begegnete die Wuppertalerin erstmals der Geschichte, die 2019 unter dem Titel „La plus précieuse des marchandises“ erschienen und in Frankreich zum Bestseller geworden war. Darin wird einer armen Holzfällerfrau mit unerfülltem Kinderwunsch aus einem Güterzug ein Baby gereicht, als dieser kurz angehalten hat. Während der Zug weiterfährt und seine Menschenfracht in ein Konzentrationslager transportiert, hält die Frau „das kostbarste aller Güter“ in Händen. Jacoby gab der Künstlerin die erste übersetzte Passage zum Lesen. Ihr „märchenhafter Stil“ nahm sie sofort ein. Außerdem sei die Geschichte wichtig, erzählt sie, weil sie in Erinnerung rufe, wie schlimm die Zeit war und dass das, was damals geschah, wichtig und aktuell bleibe. Auch wenn das 136 Seiten schmale Din A 5 große Büchlein eher eine Erwachsenengeschichte erzählt, sie unsicher ist, ob auch Jugendliche schon den Zugang finden. Deren Idee, das grauenhafte Thema in ein Märchen zu verpacken, erscheint ihr raffiniert, könne aber zum Beispiel bei Betroffenen auf Abwehr stoßen.
Grauenhaftes Thema
in ein Märchen verpackt
Mit dem renommierten Schriftsteller Grumberg konnte sie sich nicht austauschen. Von dem 81-Jährigen wusste die Illustratorin nur, dass er zurückgezogen – ohne Internet und Computer – in Paris lebt und nur analog kommuniziert. Und dass er der Auffassung war, dass seine Geschichte sehr gut ohne Bilder leben könne. Entsprechend groß war die Herausforderung für Möltgen. Und die Erlösung, als sie vor kurzem seine Zeilen „Danke für das Juwel“ erhielt.
Vorgaben bei der Gestaltung gab es nicht. Und so konnte sie die Bilder abwarten, die beim Lesen in ihr entstanden. „Ich hatte sie vor Augen, musste nur darauf achten, dass ich bestimmte Dinge, wie den Zug, zeitgemäß darstellte.“ Mit Hintergrundwissen, Fotos und sicherem Bauchgefühl schuf sie 20 schwarz-weiße Bilder und 21 Kapitel-Vignetten, die sie mit Rahmen umfasste, um die märchenhafte Anmutung zu unterstreichen. Gemalt mit Kohlestift, schwarzen Buntstiften und weißer Kreide. Anmutige, stille und emotionale Bilder, die hineinziehen und unter die Haut gehen. Ein junges Mädchen, das den Betrachter ängstlich anblickt, während ihm die Haare geschoren werden, eine schützende Hand vor einem schlafenden Baby, ein kleines leuchtendes Haus in bedrohlich dunkel-hohem Wald. Bilder, die Möltgen nicht unbedingt leicht von der Hand gingen, etwa wenn sie den Qualm von Auschwitz malte. Allein das Titelbild leuchtet in gold-blauen Tönen. Ein kleines Mädchen schaut den Betrachter mit einem vielsagenden, zaghaft-lächelnden Blick an. Eine kalt-warme Szene, die das Bedürfnis der schützenden Umarmung weckt.
Das zauberhafte Bild ist Bestandteil einer neun Werke des Buches umfassenden Verkaufsausstellung, die Möltgen ab 1. September in der Buchhandlung von Mackensen bestreitet. Der Verlag plant überdies eine eigene Ausstellung, sucht noch nach der passenden Location, die auch in Wuppertal sein kann. Außerdem sollen die Bilder im Rahmen einer größeren Schau gezeigt werden, die Möltgen im November in Freising bestreitet.
Derweil ist die Illustratorin bereits mit Nachfolgeprojekten beschäftigt. Die Bilder für „Die blaue Ritterin“ sind fertig, das Buch erscheint im März im Urachhaus Verlag. Außerdem arbeitet sie an einem Kinderbuch von Heike Fink, das den Arbeitstitel „Lieblingsgrau“ trägt. Im Moment wird ein Verlag gesucht. Keine oberflächlichen Geschichten, sondern solche mit Substanz, die Möltgen mit Sorgfalt und viel Gefühl bebildert. Leider, so die Wuppertalerin, sei das in Coronazeiten weniger gefragt, in der Klassiker und Lernbücher gut gehen, während die Belletristik schwere Einbrüche verkraften muss. Das sollte so nicht bleiben.