Kolumne Abstand halten – allzu wörtlich genommen
Die weltweite Seuche Corona hat uns seit gut einem Jahr eine ganz neue Art von Schrecken beigebracht. Wir haben lernen müssen: Die Gesundheit jedes einzelnen von uns ist bedroht, tagtäglich und in jeder Situation.
Die weltweite Seuche Corona hat uns seit gut einem Jahr eine ganz neue Art von Schrecken beigebracht. Wir haben lernen müssen: Die Gesundheit jedes einzelnen von uns ist bedroht, tagtäglich und in jeder Situation. Die Nachrichten sämtlicher Medien waren dazu angetan, die allerschlimmsten Ängste in uns zu wecken.
Doch eine Neuigkeit dieser Tage hat das noch einmal gesteigert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt vor dem Verlust urmenschlicher Instinkte. Viele Mütter hätten sich nach der Geburt, aus Angst vor Corona, von den Neugeborenen ferngehalten. Nach einer Statistik der Behörde sei das Sterberisiko der Säuglinge durch das Fehlen von mütterlicher Zuwendung mehr als die Hälfte höher als das Risiko, an einer Coronainfektion zu sterben. Abstand halten! Allzu wörtlich genommen.
Ganz so dramatisch elementar wie in diesem Fall sind die Folgen des Abstandhaltens wohl nicht, die der Bevölkerung hier bei Corona abverlangt werden mussten. Doch tief genug griffen und greifen auch sie ein in unsere hergebrachten Lebensgewohnheiten. (Und die sind zäh!)
Abstand zu halten vom Nächsten ist sicher ein hohes Stilideal in einer zivilisierten Gesellschaft. Distanz ist ein Ausdruck von Respekt dem Nächsten gegenüber. Doch mit Corona war das Verhältnis von Abstand und Nähe zwischen den Menschen ganz neu zu verorten. Der Imperativ „Abstand halten!” wurde von staatlicher Seite zu einer Überlebensregel dem einzelnen Bürger auferlegt. Allzu große Nähe rückte damit – im Umkehrschluss – in den Verdacht eines Straftatbestands.
Reden wir nur vom bloßen Gehen in den Straßen. Verboten wurde es gottlob bei uns nie (wie zum Beispiel in Italien). Doch die ständigen Warnungen der Medien, dass der nächste Mitmensch, der einem auf dem Bürgersteig entgegenkommt, ein möglicher Krankheitsüberträger sein könne, waren eindringlich genug. Es dauerte seine Zeit, bis diese Botschaft einem in die Knochen gefahren war und ihre Wirkung tat. Der ständige Reflex, einem Entgegenkommenden sofort auszuweichen, war rasch zum Automatismus geworden, in vielen Variationen: einen Bogen schlagen, in einen Hauseingang hinein und warten, in den Fahrdamm der Autos treten, vielleicht sogar die Straßenseite wechseln.
In naher Zukunft wird es unsere Aufgabe sein, statt des Drills „Abstand halten!” wieder die Nähe zu unseren Mitmenschen zuzulassen, die uns über fünfzehn Monate abtrainiert worden ist. Die Balance zwischen Abstand und Nähe ist erneut einzuüben, die es erst möglich macht, in den gesellschaftlichen Räumen verträglich miteinander auszukommen (und möglichst mehr als das).
Oder nehmen wir den Handschlag. Bis Corona war er hierzulande selbstverständlich zur Begrüßung. Das Händeschütteln gehört zu den Bräuchen, die vom Ausland gern als „typisch deutsch” bespöttelt werden. Die Faust- oder Ellenbogenberührung, die rasch aufkam, als Ersatz-Begrüßung, wird vermutlich Corona nicht lange überleben. Für mich hatte es etwas von Anrempeln. Wohl deshalb geschah es ja auch fast immer mit einem leicht verschämten Lächeln.
Und wo bleiben demnächst unsere Masken – Quälgeister über so viele Monate für die meisten für uns, und Goldgruben für ein paar sehr wenige? Trauen wir uns denn überhaupt noch mit offenem Visier über die Straße?
„Wenn der Mensch in der Rolle seiner eigenen Person auftritt, gleicht er sich am wenigsten”, stellte vor über hundert Jahren Oscar Wilde fest, der englische Dichter und scharfäugige Beobachter seiner Gesellschaft. Deshalb forderte er: „Gebt ihm eine Maske, und er wird euch die Wahrheit erzählen.”
Ist es am Ende eine zu gewagte Utopie, dass uns alle das ständige Tragen der Mund-Nasen-Masken wieder ein bisschen empfänglicher für die Wahrheit gemacht hat: für die Wahrheit der anderen – und nicht zuletzt unsere eigene? Einen Hoffnungsschimmer wäre es wert...