Boris Charmatz über das Projekt „20 dancers for the 20. Century and even more“, das am 26. und 27. April das Opernhaus in ein Tanzmuseum verwandelt Wuppertaler Opernhaus wird zum lebenden Tanzmuseum

Wuppertal · „20 dancers for the XX. century and even more“ verwandeln am 26. und 27. April das Opernhaus in ein lebendes Tanzmuseum. Auch eine Vorahnung dessen, was ein zukünftiges Pina Bausch Zentrum an künstlerischen Impulsen und Internationalität in die Stadt bringen könnte.

Boris Charmatz in Barmen in der Lichtburg, wo die Compagnie noch heute probt.

Foto: Hermine Fiedler

Als er sich entschied, das Projekt auch in Wuppertal umzusetzen, wusste er nicht, dass es sein Letztes als Intendant des Tanztheaters sein würde. Und so mischt sich Traurigkeit in die Freude auf das, was Boris Charmatz zusammen mit 26 Tänzerinnen und Tänzern, zwölf davon aus der Compagnie, erarbeitet. Ein Projekt, das er sehr mag, weil es offen ist und Tanzgeschichte von 1900 bis heute transportiert. Tanzgeschichte, die Körper erzählen, die ihre eigene Handschrift hinein weben. Ihre persönliche Geschichte und die mit Pina Bausch. Die Wuppertaler Version von „20 dancers for the XX. century and even more“.

Am 26. und 27. April verwandeln sie das Opernhaus in ein lebendes Tanzmuseum. Auch eine Vorahnung dessen, was ein zukünftiges Pina Bausch Zentrum an künstlerischen Impulsen und Internationalität in die Stadt bringen könnte.

Es gibt Museen für Kunst, Geschichte oder Kommunikation. Und es gibt Tanzmuseen, die man mit Videos, Projektionen oder Artefakten gestalten kann. Für das Musée de la danse in Rennes, das Boris Charmatz von 2009 bis 2019 leitete, wählte er 2012 einen anderen Weg. Sein Projekt knüpfe an die Erkenntnis an, dass „Tänzer ein Tanzmuseum in sich selbst tragen“. Körpermuseen, die man ausstellen müsse. „Die Tänzer müssen wie ein Archäologe in sich graben und ihre reichen Schätze nach außen tragen“, erklärt Charmatz. „Ein Strom aus Geschichte, Gedächtnis und dem Hier und Jetzt“.

Gesten aus der Vergangenheit mischen sich mit der physischen Erinnerung und dem eigenen Wissen, dem eigenen Bewegungsmuster, der eigenen Verfassung: „Es ist Erkundung, Erforschung, museale Annäherung an einen neuen Ausstellungsort. Es kann die Form einer stürmischen Wiederaneignung oder einer respektvollen Hommage haben.“

Eine Idee, die von Anfang an Freude machte, faszinierte, nach Wiederholung schrie. Und so entwickelte Charmatz Versionen mit dem Pariser Opernballett, im New Yorker Moma, in der Londoner Tate Modern, der Reina Sofia in Madrid oder am russischen Ehrenmal in Berlin. Und nun im Wuppertaler Opernhaus.

Strom aus Geschichte, Gedächtnis und dem Hier und Jetzt

Die Pina-Bausch-Tänzer – darunter Ditta Miranda Jasjfi, Barbara Kaufmann, Nayoung Kim, Eddie Martínez, Julie Anne Stanzak, Aida Vainieri und Michael Strecker – bringen das Erbe der großen Choreografin ein, das sich mit der eigenen Biografie mischt: „sodass es nicht nur Pina zu sehen gibt“. 15 weitere Tänzer, die zum Teil zu Boris Charmatz‘ französischer Association Terrain gehören, bei „Liberté Cathédrale“ oder „Wundertal“ mitgewirkt haben, sowie der Weltmeister im Hip-Hop-Freestyle, Ben Wichert, vom Wuppertaler Urban Art Complex steuern weitere tänzerische Aspekte bei. Alle sind Spezialisten für bestimmte Repertoires, Choreografien, Geschichten und Kulturen. Der Körper von Ashley Chen, der lange für Merce Cunningham getanzt habe, sei ein anderes Museum als das von Frank Willens, der viel mit Tino Sehgal arbeitet. Luciény Kaabral, die ihre Karriere in einer Kompanie in Kap Verde begonnen hat, bringe wieder etwas völlig anderes mit. „Ein Wald aus Tänzern, die man besichtigen kann.“

Man kam zusammen, sprach, probierte aus, „die Tänzer haben unterschiedliche Wege, ins Gedächtnis zu schwimmen“. Man wählte aus, pro Tänzer vielleicht zwei bis vier Soli, insgesamt Stoff für drei Stunden. Man suchte Musik aus, klärte Rechte ab. Die Tänzer seien frei während der Vorstellung, performen, erzählen, zeigen, tanzen, erklären ihr Tun. Ohne Bühnenbild und Mittänzer. Sind ansprechbar. In zwölf Räumen, vom Magazin bis zum Kronleuchterfoyer, von der Hinter- bis zur Probebühne. In einem Raum können zwei Tänzer sein – während der eine agiert, kann sich der andere erholen. „Nur Frank Willens will die drei Stunden durchtanzen.“ Die Besucher können sich frei bewegen, bleiben, gehen, wiederkommen. Sehen, hören, fühlen. „Sie sollten sich Zeit nehmen, keinen Stress haben, Freude kriegen, das Opernhaus ist groß und verwinkelt“, rät Charmatz.

Die Besucher können
sich frei bewegen

Er selbst, der eine Kombination aus Anne Teresa De Keersmaeker, Meg Stuart, Isadora Duncan, Vaslav Nijinsky und Pina Bausch (bei „Forever“ in Pina Bauschs „Café Müller“ übernahm er beim Festival in Avignon letztes Jahr der Rolle von Jan Minařík) in sich trägt, schaut diesmal zu. Vielleicht um das Opernhaus noch einmal bewusst wahrnehmen zu können.