Freies Netzwerk Kultur Kunst für eine bessere Welt: Bedeutung des Einzelnen verschwindet im Grundrauschen

Tine Lowisch wünscht sich in der Wuppertaler Kulturkolumne Ästhetik als konzertierte Aktion.

Tine Lowisch.

Foto: CLAUDIA SCHEER VAN ERP

In letzter Zeit häufen sich im Kunstbetrieb die Erzählungen von Menschen aus der zweiten Reihe. Es werden ganz langsam einzelne Stimmen lauter von helfenden Händen, von Assistenten, die wenigstens mit erwähnt werden wollen, und damit verliert die Idee, dass ein einzelner Mensch nur aus sich selbst heraus eine verfeinerte Wahrnehmung im Sinne einer Genialität entwickeln kann, immer mehr den Glanz. Wir leben in einer Zeit, in der nicht mehr nur Einzelne vermeintlich schöne Gesetzmäßigkeiten senden und viele diese, wie im Rausch beruhigt und dadurch gedankenlos, empfangen.

Der Glaube oder fast schon der Kult um die hohe Bedeutung der individuellen Kraft des Einzelnen oder einiger weniger Tonangebender versendet sich im Grundrauschen des aktuell Gleichzeitigen, in dem wir im andauernden Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit alle zusammen tragische Figuren in einer Komödie oder bald zu Tode amüsierte Komödianten in einem Trauerspiel sind.

Nur ein Beispiel: Der deutsche Papst räumt seine Fehler ein und kündigt! Selbst seine Unfehlbarkeit ist also nicht in Stein gemeißelt. Ich finde, mit dieser Erkenntnis kann man jetzt eigentlich erst richtig anfangen, an der Zukunft zu arbeiten. Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind auf diesem Weg der Kraftstoff für kulturübergreifende, interdisziplinäre, vielleicht sogar grenzüberschreitende Gruppenarbeit. Künstler in der zweiten Reihe versuchen das kollektive, künstlerische Arbeiten als Mittel der Durchsetzung ihrer Motive schon lange Zeit, und zum Glück werden große Ausstellungen von einzelnen Stars in großen Häusern immer seltener.

Es sei denn, man blickt zurück, vielleicht auf ein Lebenswerk. Renommierte Auszeichnungen und Kunstpreise gehen auch schon seit Jahren immer häufiger an spartenübergreifende, künstlerische Initiativen. Selbst das Kuratieren von großen Kunstereignissen findet mittlerweile offensichtlicher in gruppendynamischen Prozessen statt. Aktuelles Beispiel: für die zurzeit laufende Ausstellung documenta fifteen ist das seit über 20 Jahren aktive, indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa aus Jakarta als Kuratorengruppe zuständig. Ihr eigentliches Grundmotiv, das der Gemeinschaft und Solidarität als Leitgedanke, dieser Weltkunstschau, dieses größten Kunstereignisses in Deutschland, ist aller Ehren wert.

Dass die documenta fifteen durch das Zeigen eindeutig antisemitischer Karikaturen sozusagen vergiftet wurde, ist ein unerklärlicher Fehler, der vollumfänglich aufgearbeitet werden muss. Aufgabenteilung und zu große, überkomplexe Zusammenhänge können also nicht nur einzelne Verantwortliche überfordern, sondern auch ganze Gruppen von Entscheidungsträgern, denn das Argument eines „Flüchtigkeitsfehlers“, der in einem anderen Kontext zu bewerten ist, ist schwer zu verdauen. Wenn es kein „Flüchtigkeitsfehler“ war, frage ich mich allerdings, wer die anderen, weit über 100 beteiligten Künstler mit, wie man liest, wertvollen künstlerischen Beiträgen zu Solidarität und Wahrung unseres gemeinsamen Wohls, wohl in den Schatten stellen wollte, indem er die Diskussionsgrundlage dafür schuf, dass bei der laufenden oder bei der nächsten documenta in fünf Jahren vielleicht das Licht ausgeht? Ich hoffe also auf die Diagnose: Menschliches Versagen. Ein Fehler, der leider auch nicht von einem eigentlich sinnstiftenden, kollektiven Ansatz einer Ästhetik als gemeinsame, konzertierte Aktion verhindert werden konnte.