Lügenstaat hilft bei Lebenswahrheit

Wolf Biermann erzählt aus seiner Autobiografie von 2016 und rechnet mit der DDR ab.

Foto: Gerhard Bartsch

Auf dem Buchrücken der Autobiografie steht der Satz: „Selten sind persönliches Schicksal und deutsche Geschichte so eng verwoben wie bei Wolf Biermann.“ Eine Feststellung, die am Donnerstag im Barmer Bahnhof durch den mittlerweile 81-jährigen Liedermacher und Lyriker zu unterhaltsam erzähltem Leben erweckt wurde. Ein Leben, das er in knapp 600 Seiten presste, was ihm schwer genug fiel. Ebenso die Beschränkung auf wenige Stunden der Plauderei und des Vorlesens vor zahlreichen, meist älteren Besuchern dieser Veranstaltung der Wuppertaler Literatur Biennale. Zugleich unternahmen sie eine Reise in die eigene Vergangenheit, in eine Zeit, als BRD und DDR unverrückbare Tatsache waren.

Wolf Biermann

Biermanns Werk „Warte nicht auf bessre Zeiten!“ sei eine Abrechnung mit der DDR, ihren Lügen und Halbwahrheiten, eine Mischung aus „Tragödie und Schweikiade“, verspricht Gerold Theobalt von der Wuppertaler Goethe-Gesellschaft, die zu den Partnern des Literaturfestivals gehört, bei seiner Einführung in die Veranstaltung „Lügenstaat“. Sie ist quasi eine Pflichtlektüre für ein Festival, das sich dem (literarischen) Motto #SchönLügen versprochen hat.

Zwei Freunde bringt der Autor mit — den Liederdichter und Kulturredakteur Andreas Öhler und seinen Zieh-Sohn Manuel Soubeyrand, Intendant im brandenburgischen Senftenberg. Während Öhler sich auf kurze Stichworte beschränkt, um Biermann Raum für seine Geschichten zu geben, liest der „Lieblingssohn“ längere Passagen aus der Autobiografie des politischen Barden. Im Mittelpunkt steht aber stets ein einnehmender Entertainer Biermann, den es beim Erzählen nicht auf dem Stuhl hält, der über die Bühne läuft, kokettierend, werbend und ohne geringste Ermüdung oder gar Gedächtnisschwäche den Abend beherrscht.

Hat er in seinem Buch getäuscht, indem er beim Schreiben auf Erinnerungen angewiesen war, die den Autor selbst trügen können, will Öhler wissen. „Ich lüge grundsätzlich nur mit der Wahrheit — ich bin ja kein Anfänger“, gibt Biermann schlagfertig zurück und verweist auf seine Quellen: Seine Tagebücher, die er 1954 im Alter von 17 Jahren begonnen und ununterbrochen geführt habe, und die Stasiakten über ihn, „mindestens 50 000 Seiten“, die er als einer der ersten nach der Wende habe einsehen dürfen. „Deutsche Wertarbeit — ich habe keinen einzigen Fehler gefunden“, schmunzelt er verschmitzt.

Zwar sind damit nicht alle Lebensjahre abgedeckt — aber wen interessiert das, wenn ein Leben so detailliert, bildhaft, spannend und zugleich immer wieder ironisch, witzig und sprachvirtuos erzählt wird. Wenn selbst den schlimmen Momenten die Spitze genommen wird. Etwa wenn der mit Berufsverbot belegte Liedermacher von der im Westen lebenden Mutter Emma Parkettlack erhält, der die Stasispitzel ins Chaos stürzt, weil ihre im Boden angebrachten Wanzen verkleben. Oder wenn Margot Honecker, deren Vater ein Kampfgefährte seines Großvaters gewesen war, ihn 1964 in seiner Wohnung besucht, um ihn auf den regimekonformen Weg zu bringen, und steif im unbequemen, verschlissenen Ohrensessel sitzt. Oder wenn wiederum die Mutter, die in der Dutschke-WG in West-Berlin nächtigt, um von dort den Sohn im Osten der Stadt zu besuchen, Gretchen auffordert, den Müll vom Balkon zu entfernen und Rudi sie fragt, ob sie das sexistisch oder politisch meine.

Biermann wurde 1936 in Hamburg geboren. Sein Vater war Kommunist und Jude, wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Mit 16 Jahren ging Biermann freiwillig in die DDR, um „den Kommunismus aufzubauen, die Menschheit zu retten und den Vater zu rächen“. Er studierte (etwas) Wirtschaft, Mathematik und Philosophie, kam zum Berliner Ensemble, begann Gedichte und Lieder zu schreiben. Und geriet schnell mit den Machthabern in Konflikt. Den „casus belli“, sein Gedicht „an die alten Genossen“, das ihm 1962 den Vorwurf des Aufrufs zur Konterrevolution eintrug, konnten die Wuppertaler am Donnerstag in der Originalaufnahme hören.

Desgleichen seine „Bilanz-Ballade zum 30-Jährigen“ (1966), die der seit 1965 mit totalem Auftritts- und Berufsverbot belegte Biermann unter schwierigen Umständen in seiner Wohnung aufgenommen hatte. Für Öhder Ausdruck unfassbarer Kraft und Anlass zur Frage, ob Verbote anspornten. Biermann bescheiden: „Ich war immer Außenseiter“, durch den Zufall der Geburt als Kind einer kommunistisch-jüdischen Familie im Westen und später als Zugezogner im Osten. Vor allem aber habe seine Mutter ihm beigestanden, auch als man sie 1965 bedrängt habe, sich öffentlich gegen ihn zu stellen. Biermanns Fazit: „Du brauchst die richtigen Freunde und die richtigen Feinde.“

Eine weitere Ahnung vom Überleben in der DDR erhält man, als die Sprache auf die vielen Persönlichkeiten aus Ost und West kommt, die Biermann besuchen und sein „Wohnzimmer zur Wartehalle zur Revolution verwandeln“. Als der Netzwerker Biermann 1976 wenige Tage nach einem Konzert in Köln, wo er im Rahmen einer Tournee durch die Bundesrepublik auftrat, ausgebürgert wurde, kam es zu Protesten in Ost und West. Biermann kehrte nach Hamburg zurück, wo er noch heute lebt — vielfach ausgezeichnet, gefragt und anerkannt. Und immer noch streitbar — wie er bei der Feierstunde zum Mauerfall 2014 im Bundestag bewies, als er die Linke scharf attackierte.

So ein Leben passt wirklich kaum in knapp 600 Seiten.