Serie Meine erste Platte: Als der Punkrock ins Kinderzimmer kam
Wuppertal · WZ-Redakteur Daniel Neukirchen stieß mit dem Kassettenrekorder vor dem Fernseher auf die Kultband „Die Ärzte“.
Als Kind habe ich mir gar keine CDs gekauft. Schließlich konnte man die Tonträger doch einfach von Freunden ausleihen und über Wochen nicht zurückgeben. Das machte man so. Ich hatte einen Schulkameraden, der einem Freund seine eigene Lieblings-CD zum Geburtstag geschenkt hat, nur um sie sich noch am selben Tag auszuleihen und anschließend final einzubehalten. Zur Not konnte man die CDs auch mit dem Kassettendeck überspielen und hatte dann eine Kassetten-Version der CD in grauenhafter Qualität.
Gewitzt wie ich war, weitete ich irgendwann das Raubkopieren aus, das sich damals noch in etwa so kriminell anfühlte wie Radfahren auf dem Bürgersteig. Schließlich konnte ich ja auch die Hits aufzeichnen, die auf den damaligen Musiksendern Viva und MTV rauf und runter gedudelt wurden. Dazu hielt ich meinen Kassettenrekorder einfach ganz dicht an den Röhrenbildschirm. Klar, da litt die Qualität dann noch mehr. Und es konnte sein, dass über die letzten Takte eines Liedes die flippige Moderatorin drüber quatschte oder im schlimmsten Fall sogar die Mutter, die im Türrahmen darauf hinwies, dass das Essen fertig ist.
Egal. Ich hatte mit dieser Methode Zugang zur kunterbunten Welt der Musik. So erweiterte sich mein Repertoire über die Matthias Reim-Kassette, die im Familienauto in Endlosschleife lief, weit hinaus. Zunächst hörte ich leider hauptsächlich die damals angesagte Musikrichtung „Dancefloor“. Das war leichte Kost: dumpfe Beats, hauchende Sängerinnen, Rap-Passagen auf Vorschul-Niveau. Diese Lieder waren so eine Art erstes Leseheft für ungeübte Musikhörer.
Ich muss so elf bis zwölf Jahre gewesen sein, als mir auf meinen Musik-Kassetten eine Band besonders auffiel: die Ärzte. Sie stachen für mich aus dem Einheitsbrei der damaligen Zeit krass hervor. Ich hörte den „Schunder-Song“ und war fasziniert von dem schnellen Schlagzeug, von der Härte der Gitarre und dem wummernden Bass.
Doch was mich vor allem in den Bann zog, waren die Texte. Nachdem ich mir von einem Freund das Album „Planet Punk“ ausgeliehen hatte, blies mir diese Band endgültig die Haare zurück. Ein Potpourri aus Wortwitz, Fäkalsprache und absolutem Nonsens prasselte auf mich herein. Das eine oder andere Mal musste ich hektisch den Lautstärke-Regler nach unten drehen, um meine Eltern im Wohnzimmer nicht zu verunsichern. In besonderer Erinnerung blieb mir etwa das Lied „Meine Ex(plodierte) Freundin“. Darin gibt es so Textzeilen wie: „Ich wollt sie gerade küssen, da gab es einen Knall. Grad eben lag sie neben mir. Jetzt liegt sie überall.“ Mit solchen Reimen war man für den Smalltalk auf dem Schulhof gerüstet.
Ich konnte meine Faszination damals noch nicht so richtig an einer bestimmten Sache festmachen. Wahrscheinlich packte mich wohl dieser extreme Gegensatz zu der kommerziellen Massenmusik. Bei diesen drei Musikern war offenbar alles erlaubt. Ich erinnere mich an Konzerttickets, auf denen sich die Band splitternackt fotografieren ließ. Die Perforation der Eintrittskarten war so platziert, dass beim Einlass genau die Unterhälfte der Künstler abgerissen wurde. Man konnte sich vorstellen, wie der Boden in den Konzerthallen ausgesehen haben muss.
Menschen, die schon etwas länger auf diesem Planeten weilten, konnte diese ganze Punkrock-Attitüde sicher nur ein müdes Lächeln abringen. Rebellion, Anarchie, Hedonismus – das war doch alles schon längst durchgenudelt und zu Ende erzählt. Aber für mich, einem Zwölfjährigen mit Viva als dem einzigen Fenster zur Musikwelt, waren die Ärzte in den 90er Jahren der Inbegriff der Kontrakultur. Ich hatte nicht den Blick dafür, dass „Die Ärzte“ auch nur eine andere Form des Mainstreams sein könnten, es war ja schließlich der einzige Stream, der bei mir ankam. Die Ärzte strömten aus meinen Boxen und ich wurde mitgerissen.
Und so kam es, dass ich mir zu Weihnachten meine erste eigene CD wünschte – natürlich mit dem festen Vorsatz, diese niemals zu verleihen. Unter dem Baum lag am 24. Dezember „Die Bestie in Menschengestalt“ von den Ärzten. Auf dem ikonischen Cover prangte ein kleines nacktes Teufelchen. Niedlich. Als ich das Album dann vor meinen Eltern aufklappte, fiel mir sofort das Foto im Innencover ins Auge: eine unbekleidete Frau auf der Krabbeltiere und Fliegen ausgelegt wurden. Zügig klappte ich das Album zu und bedankte mich für dieses erfreuliche Geschenk.
Über die Jahre hat mich mein Kumpel noch einige Male auf das Planet-Punk-Album angesprochen. Er ist der Meinung, dass ich es ihm niemals zurückgegeben habe. Fakt ist: Die CD ist aus unserer beiden Sammlungen verschwunden. Was völlig egal ist, denn es macht sowieso mehr Spaß, sich gemeinsam an diese Musik zurück zu erinnern, als sie sich tatsächlich noch einmal anzuhören. Sie ist bestimmt noch immer genial. Belassen wir es dabei.