Literatur Poetikdozent Jan Philipp Reemtsma zu Besuch in Wuppertal

Wuppertal · Zum Auftakt kam der Poetikdozent am Mittwoch zu einer Lesung in die voll besetzte Elberfelder Citykirche.

Poetikdozent Jan Philipp Reemtsma im Gespräch mit Uni-Rektorin Birgitta Wolff.

Foto: Andreas Fischer

Es wäre vergebliche Liebesmüh, das Schreiben von Jan Philipp Reemtsma auf einen Nenner bringen zu wollen. In mehr als 30 Jahren hat der Hamburger Publizist über den Boxer Muhammad Ali und zeitlich weit auseinanderliegende Schriftsteller wie Wieland und Arno Schmidt geschrieben. Ähnlich umfangreich ist sein essayistisches Werk, das sich mit Themen wie Gewalt, Vertrauen und Erinnerungskultur auseinandersetzt.

Was die so unterschiedlichen Texte dennoch verbindet, ist das Bemühen, sich schreibend der Wirklichkeit zu nähern, sie begreifbar zu machen. Das gilt insbesondere für das 1997 veröffentlichte Buch „Im Keller“, in dem Reemtsma über die eigene Entführung durch Kriminelle, Gefangenschaft und Befreiung schreibt. Ein Bericht, der – so der Anspruch des Autors – nur festhält, was „so passiert ist“.

Mit seinen Wirklichkeitserzählungen hat Reemtsma früh das Interesse des Wuppertaler Germanisten Christian Klein geweckt. Klein konnte den Vielbeschäftigten überzeugen, als dritter Poetikdozent für faktuales Erzählen an die Bergische Universität zu kommen. Die Poetikdozentur ist seit 2022 an der Fakultät der Geistes- und Kulturwissenschaften angesiedelt. Nach Marcel Beyer und Carolin Emcke nimmt sich nun Reemtsma in mehreren Veranstaltungen Zeit, über sein Selbstverständnis als Autor und seine Arbeitsweisen zu sprechen.

Den Auftakt machte der Poetikdozent am Mittwoch mit einer Lesung in der voll besetzten Elberfelder Citykirche. Während Veranstalter Klein seinen Gast als Geistes- und Sozialwissenschaftler vorstellte, der wechselseitig auf Literatur und gesellschaftliche Phänomene blickt, nannte sich Reemtsma einen Philologen. Im Wort steckt die „Liebe zur Sprache“ – und diese Liebe ist für ihn Grund genug, sich immer wieder in Themen zu vertiefen und darüber zu schreiben: „Die Literatur ist zu nichts da, ist einfach da.“

Die Realitäten, die der Vorleser seinen Zuhörern nahebrachte, waren denkbar verschieden. Zunächst ging es um den „Thrilla in Manila“ von 1975, den entscheidenden Boxkampf zwischen Muhammad Ali und Joe Frazier. „Das muss man anders machen als die Sportjournalisten“: Dieser Gedanke habe ihn motiviert, in Buchform Alis Boxstil zu analysieren und zugleich dessen politisches Engagement in den Vordergrund zu rücken – für die Gleichberechtigung der Afro-Amerikaner und gegen den Vietnamkrieg.

Übliche Sichtweisen will Reemtsma auch mit seiner jüngst erschienenen Wieland-Biografie aufbrechen, aus der er ebenfalls las. Zur „literaturgeschichtlichen Korrektur“ gehört, dass er Christoph Martin Wieland (1733-1813) nicht als Vorläufer des Klassikers Goethe, sondern als Schöpfer einer modernen deutschen Prosa würdigt.

Zwei Vorlesungen auf
dem Campus Grifflenberg

Es war nicht das letzte Mal, dass der Gastdozent auf einer eigenständigen Perspektive beharrte. Den Begriff „Faktuales Erzählen“ wolle er nicht näher definieren, so Reemtsma: „Ich glaube nicht, dass man mit diesem Konzept viel anfangen kann.“ In den zwei Vorlesungen, die er auf dem Campus Grifflenberg hält, möchte er anders über Literatur sprechen. Es werde einen „destruktiven Teil“ geben, in dem er die üblichen Ansätze hinterfrage. Erst danach wolle er einen konstruktiven Neuanfang versuchen.

Der Soziologe kam zu Wort, als Reemtsma über das Projekt der Moderne sprach. Die Modernisierung der Gesellschaft lasse sich nicht zuletzt an der zunehmenden Ächtung der Gewalt ablesen. Das Publikum lud er ein, sich auf ein Gedankenexperiment einzulassen. Was hätten die Besucher der Citykirche vor 500 Jahren gemeinsam gehabt? Seine Antwort: „Sie hätten alle eine Waffe dabei.“ Die Bewaffnung sei damals nötig gewesen, um sich nach Einbruch der Dunkelheit sicher bewegen zu können. „Das ist ein ganz anderes Lebensgefühl, Körpergefühl, als wir es heute kennen.“

Die Janusköpfigkeit der Moderne zeigt sich, wenn in Krisen das „soziale Vertrauen“ schwindet. Verschwörungserzählungen sind für Reemstma nicht erst seit Corona ein Problem. Antisemitische Narrative hielten sich hartnäckig. Aufklärung stieße dabei an ihre Grenzen, betonte er: „Emotionen sind nicht durch Informationen zu beeinflussen.“ Den Einwand eines Zuhörers, Literatur könne Ressentiments durch Identifikationsfiguren entkräften, ließ er nicht gelten. So hätten die Romane von Charles Dickens im 19. Jahrhundert vielleicht Sozialreformen angeregt. Gegen Antisemitismus könnten Bücher jedoch nichts ausrichten.