Interview „Die Fernsehserie Holocaust hat einen Schub in der Wahrnehmung ausgelöst“

Wuppertal · Ulrike Schrader zur Entstehungsgeschichte der Begegnungsstätte Alte Synagoge.

Ulrike Schrader leitet die Begegnungsstätte Alte Synagoge seit der Eröffnung im Jahr 1994.

Foto: Andreas Fischer

In der Vortragsreihe „Orte der Demokratiegeschichte“ berichten Sie über die Entstehungsgeschichte der Begegnungsstätte Alte Synagoge. Wie passt dieser Ort an der Genügsamkeitstraße in eine Reihe mit dem Helene-Stöcker-Denkmal, der Kirchlichen Hochschule, der Armin-T-Wegner-Gedenktafel, der Bergischen Universität oder der Concordia?

Ulrike Schrader: Die Begegnungsstätte ist ein Ort der Demokratiegeschichte, weil sie das Ergebnis eines Wandels im historischen Bewusstsein unserer Gesellschaft ist. Ohne historisches Bewusstsein kann es eine Demokratie nicht geben. Konkret beruht die Begegnungsstätte auf dem Wechsel in der Wahrnehmung des Nationalsozialismus.

Sie sprechen von
Erinnerungsschüben, in denen sich die Wahrnehmung geändert hat. Was hat schließlich dazu geführt, mehr als nur Gedenktafeln aufzustellen?

Schrader: Ein erster Schub war um 1960, ausgelöst von der Medienberichterstattung über die sogenannte antisemitische Schmierwelle in den Jahren 1959 und 1960, aber auch vom Treffen von Bundeskanzler Konrad Adenauer mit dem israelischen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion 1960 in New York, vom Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem. In vielen Städten wurden in der Folge Gedenktafeln zur Erinnerung an die zerstörten Synagogen installiert, so auch 1962 in Barmen und Elberfeld. Einen weiteren Schub gab es im Winter 1978/79: Hans Rosenthal, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, sollte am 9. November die 75. Folge von ‚Dalli Dalli‘ auf Druck des ZDF moderieren, obwohl man wusste, dass er als Holocaust-Überlebender am gleichen Tag bei einer Gedenkfeier zum 40. Jahrestag der Novemberpogrome in der Kölner Synagoge erwartet wurde. Nur zwei Monate später wurde die amerikanische Fernsehserie „Holocaust“ ausgestrahlt, die ebenfalls Millionen Fernsehzuschauer gebannt verfolgten.

Welche Folgen hatte
dieses Medienereignis?

Schrader: Ab dann haben sich viele jüngere Menschen für dieses Thema interessiert und in Arbeitsgruppen engagiert. Die emotionale und persönliche Behandlung des Themas hat zu einer der größten Laien-Forscherbewegungen geführt. Unglaublich viele Schüler haben sich 1980 am Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten zum Thema „Alltag im Nationalsozialismus“ beteiligt. Die Bürgerinnen und Bürger wollten plötzlich wissen, wo die Synagoge in ihrem Heimatort gestanden hatte, ob und wie viele jüdische Familien in ihrem Dorf oder in ihrer Stadt gelebt hatten, wie sie hießen und was mit ihnen passiert ist.

Wie war damals die
Situation in Wuppertal?

Schrader: 1978 hat sich der „Arbeitskreis Wuppertal in nationalsozialistischer Zeit“ gegründet, unter der Leitung von Professor Klaus Goebel, dem unter anderen Ulrich Föhse und Kurt Schnöring angehörten. Schnörings Buch „Auschwitz begann in Wuppertal“ ist 1981 erschienen, gehört also auch in diese Aufbruchsstimmung.

Bis zum Beschluss für den Bau einer Begegnungsstätte dauerte es Jahre. Warum?

Schrader: Eine erste Initiative war 1981 ein Ortstermin von Mitgliedern der CDU-Fraktion. Die Stadtverordneten kritisierten den Zustand der Gedenktafel. Dann löste ein Bebauungsplan für ein Parkhaus auf dem Grundstück eine Debatte aus. Die Grünen, die seit 1983 im Stadtrat saßen, warnten davor, sich zum „Testamentsvollstrecker“ von Joseph Goebbels zu machen. Tatsächlich hatte Goebbels nach dem Novemberpogrom 1938 vorgeschlagen, die Flächen der zerstörten Synagogen Deutschlands als Parkplätze zu nutzen. Der Parkhausplan an einem historisch so belasteten Ort war absolut aus der Zeit gefallen. Die Medien waren sofort alarmiert, auch die Bevölkerung mischte sich ein und verschiedene zivilgesellschaftliche Gruppen.

Was hatte sich im
Bewusstsein speziell in
Wuppertal geändert?

Schrader: In Wuppertal war es ein CDU-Stadtverordneter, der den Beschluss zu einer Gedenkstätte gefordert hat. Ulrich Föhse hatte schon seit 1980 nach jüdischen Wuppertalerinnen und Wuppertalern gesucht, die in der NS-Zeit emigrieren mussten. Er hatte bis 1985 rund 500 Adressen gesammelt. Damals hat Ulrich Föhse in den Ratssitzungen von seinen Gesprächen mit diesen „Ehemaligen“ berichtet. Das hat alle total beeindruckt. Er hat die Stimmen der Emigranten, die aus Wuppertal vertrieben wurden, hörbar gemacht. Diese Menschen haben erwartet, dass Wuppertal etwas tut. 1987 wurde die Gedenkstätte im Konsens beschlossen.

Bis zur Eröffnung 1994
verging noch einmal viel Zeit. Warum?

Schrader: Das dauerte noch extrem lange, sodass zwischenzeitlich der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Herr Bleicher, die Brocken hinwerfen wollte. Ich erinnere ungern an die Probleme im damaligen Bauamt, unschön sind auch die Streitereien zwischen der Baukommission und den Architekten gewesen. Bedauerlicherweise ist das Haus nicht gut gebaut worden: Es leidet seit Beginn vor allem unter Wasserschäden. Es ist Eigentum der Stadt und hat eine für Wuppertal einzigartige mutige Architektur. Aber es ist in einem sichtbar schlechten Zustand. Für ein gesellschaftliches Statement der Stadt ist das nicht gut.

Wie oft werden Sie
aktuell von Schülern
oder aus anderen
Besuchergruppen auf den Gaza-Krieg angesprochen?

Schrader: Sehr oft, denn die Leute sind durch den Krieg in Gaza zu Recht emotional sehr berührt und auch empört. Und da die Begegnungsstäte als „jüdischer Ort“ gelesen wird, gibt es eben auch oft diesen Kurzschluss, dass man uns hier mit Israel identifiziert. Wir müssen dann erklären, dass die Begegnungsstätte ein Ort für alle ist, ein Ort der Information und Diskussion. Ein Ort mit einem Museum für die jüdische Geschichte Wuppertals. Dass Juden hier in Deutschland in der Regel Deutsche sind und nicht Israelis, dass Jüdisch eine Religion ist und keine Nationalität. Und schließlich: was Antisemitismus ist, wie er entstanden ist, wie er sich ausdrückt und was er anrichtet. Und freilich sind wir Partei: gegen die menschenverachtende Verschwörungstheorie, die Antisemtisimus darstellt, nicht nur in Gaza, sondern auch in Wuppertal.

Sorgen Sie sich langfristig um den Bestand der Gedenkstätten in Deutschland?

Schrader: Wir sehen mit den Kollegen und Kolleginnen in den ostdeutschen Bundesländern, dass bei bestimmtem Parteienproporz die Existenz und die Förderung von Gedenkstätten in Frage gestellt werden können. Das andere große Problem ist die Übermacht der Algorithmen, mit dem die Gedenkstätten in den Sozialen Medien konfontriert sind. Hier gibt es einen richtigen Sog potenzieller Desinformation. Ich bin da sehr pessimistisch.