Wuppertal „Rising Star“ mit musikalischem Tiefgang
Wuppertal · Beim Klavierfestival Ruhr in der Historischen Stadthalle spielt Jan Lisiecki technisch perfekt, wirft aber musikalisch Fragen auf.
Pi mal Daumen hat seit zwei Jahrzehnten in der Musik die handwerkliche Ausbildung an Qualität enorm zugenommen. Treten Nachwuchsmusiker öffentlich in Erscheinung, können sie an ihren Instrumenten technisch so gut wie alles. So schnell macht ihnen keiner mehr etwas vor. Die jungen Pianisten gehören darunter. Ein Bild davon kann man sich beim diesjährigen Klavier-Festival Ruhr machen, das dieses Mal neben legendären Pianisten den „Rising Stars“ eine Bühne bietet. Einer von ihnen ist Jan Lisiecki, der im Großen Saal der Stadthalle mit seinen technischen Fähigkeiten beeindruckte.
Virtuositätsstücke spielerisch leicht gemeistert
Gerade Frédéric Chopins erstes Scherzo (op. 20) und die dritte („Scarbo“) der drei romantischen Dichtungen „Gaspard de la nuit“ von Maurice Ravel haben es in sich. Das Scherzo kann wegen seiner mürrischen Turbulenz, den raschen, wild-wirbelnden Achtelfiguren und ungestümen Bewegungen wahrlich nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Und Ravel hatte den Ehrgeiz, den listigen Kobold einen höchst klavieristischen Spuk treiben zu lassen in Form von Aufbietung aller damals (un)möglichen Spieltechniken (etwa alle Arten von Tonrepetitionen, Handabtausch, Walzerpervertierung, Geräuschnähe). Aber auch etliche Teile der anderen präsentierten Werke bergen so manche Virtuositätsstücken. Spielerisch leicht, als wären sie nur kleine Fingerübungen, spielte Lisiecki diese Abschnitte.
„Night Music“ lautete der Titel seines romantischen Programms, das weitere Stücke zum Thema „Nacht“ beinhaltete: drei Nocturnes (op. 27/1 und 55) von Chopin, Robert Schumanns vier „Nachtstücke“ (op. 23) und Sergej Rachmaninows fünf „Morceaux de fantaisie“ (Fantasiestücke, op. 3). Sein musikalischer Zugang an diesem Abend dazu – wie zu Schumanns „Träumerei“ aus den „Kinderszenen“ (op. 15), die er als einzige Zugabe spielte – warf im Gegensatz zu seiner meisterhaften Pianistik indessen Fragen auf.
Rubati (Veränderung des vorgeschriebenen Zeitmaßes) gehören zwar unabdingbar dazu. Doch er nahm sie ungewohnt sehr lange, und ging zu abrupt wieder zum Ausgangstempo zurück. Darunter litten manche musikalische Linien. Auch hätte das Lauter- und Leiser-werden (crescendo, decrescendo) fließender gestaltet werden können. Seine Anschlagskultur vom traumhaft schön-weichen Piano bis hin zum markanten vierfachen Forte bei Rachmaninow war zwar tadellos. Doch sein Druck auf die Tasten war nicht abwechslungsreich genug. Zum Beispiel bei „Gaspard de la nuit“: Der mit Ravel befreundete Pianist Henri Gil-Marchex hielt 27 Anschlagsarten bei der zweiten romantischen Dichtung („Le Gibet“) für notwendig. Zu wenige davon waren hörbar, um das drohend-beklemmende Klangbild verständlich zu vermitteln.
Eindeutig miterlebbar war allerdings, dass Jan Lisiecki pianistisch und musikalisch das Rüstzeug für einen im Sinne der Komponisten musikalischen Tiefgang hat. Das Publikum zeigte sich nach dem halsbrecherischen Ritt durch Chopins Scherzo am Schluss und der Zugabe begeistert. Es spendierte stehend Ovationen.