Herr Schuster, Sie haben sich über Jahre nicht mehr zur Politik geäußert. Warum jetzt?
Interview „Ich sehe für unser Land keine bessere Zukunft als in der EU“
Rudolf Schuster war Bürgermeister von Košice und Präsident der Slowakei. Am Donnerstag ist er in Wuppertal zu Gast.
Schuster: Nach Ablauf meiner Präsidentschaft hatte ich mir den endgültigen Abschied aus der Politik selbst verordnet. Ich war 70 Jahre alt, hatte 32 Jahre lang politische Ämter ausgefüllt, war wie durch ein Wunder von einer lebensbedrohenden Krankheit gerettet worden und ich sehnte mich danach, endlich – fern von protokollarischen Pflichten – jene fernen Länder zu besuchen, die ich schon immer kennenlernen wollte. Und ich wollte als Schriftsteller und Fotograf arbeiten und Filme drehen. In diesen vielen Jahren habe ich mich ganz bewusst von der Politik ferngehalten. Das halte ich auch jetzt so. Politiker, die mich um Rat gefragt haben oder das jetzt tun - übrigens seit einiger Zeit viel häufiger als früher - denen stand und stehe ich vertraulich zur Verfügung. In die Medien kam und kommt davon nichts. Mit meinen jetzt in Buchform vorgelegten Lebenserinnerungen ziehe ich persönliche Bilanz.
Was hat sich in den vergangenen Jahren in Osteuropa geändert, dass die Europäische Union nun so zerrissen ist?
Schuster: Wir haben uns sehr schnell an die Vorteile gewöhnt, die aus unserer neuen Mitgliedschaft in der EU erwuchsen, doch dabei übersehen, dass Brüssel auch von uns aktives politisches Engagement verlangen durfte und darf. Doch ich bin hoffnungsvoll. Der Politiker-Generation nach mir, die Brüssel mehr kritisierte als akzeptierte, folgt jetzt offensichtlich eine andere, weltoffenere, die ihre Zukunft in einem gemeinsamen Europa sieht. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Auch in Brüssel sind in der Zusammenarbeit mit den Visegrad-Staaten Fehler gemacht worden, so hat vermutlich die Finanz- und Projektkontrolle nicht immer funktioniert.
Warum fällt es Staaten wie der Slowakei, Polen, Ungarn und Tschechien so schwer, sich in der Flüchtlingsfrage an westlich-demokratischen Werten zu orientieren?
Schuster: Die Gründe dafür sind vielschichtig, und ich bin davon überzeugt, dass sie eine Langzeitfolge unseres einstigen, zum Glück überwundenen diktatorischen kommunistischen Systems sind. Denn der Widerstand gegen Flüchtlinge ist zum Beispiel auch in der ehemaligen DDR, also den neuen Bundesländern, viel größer als im übrigen Deutschland. Hier wie dort gehen manche Menschen schlimmen Populisten auf den Leim, die – völlig aus der Luft gegriffen – behaupten, mit der Aufnahme von Flüchtlingen würde es der heimischen Bevölkerung schlechter gehen. Außerdem gab es im kommunistischen Regime kaum Zuwanderer. Deshalb fehlt dort die Erfahrung im Umgang mit Emigranten.
Wie erklären Sie sich den wachsenden Nationalismus nicht nur, aber vor allem auch in Osteuropa?
Schuster: Offensichtlich haben wir Politiker - in Deutschland, Frankreich, Italien, den USA, den Visegrad-Staaten und auch anderswo - diese aufkommende politische Gefahr zu lange unterschätzt. Weil der Nationalismus nun wiederum zu einer massenhaften und weltweiten Gefahr geworden ist, die den Frieden bedroht, muss die Weltgemeinschaft international den Nationalisten den Boden entziehen. Dazu müssen überall die Lebensbedingungen der Menschen verbessert werden. Dies wird schwierig, doch ich sehe keine andere Lösung.
Welchen Anteil an der sichtbar gewordenen Schwächung der EU haben die osteuropäischen Staaten selbst?
Schuster: Dass sie daran Anteil haben, stimmt zweifellos. Unseren Hauptfehler sehe ich darin, dass wir von Anfang an nicht genug gewürdigt haben, welchen Nutzen wir relativ schnell durch unseren Beitritt in die EU hatten. Ich war damals direkt beteiligt, war dankbar vor allem über die Unterstützung Deutschlands und die Fürsprache von Johannes Rau, mit dem ich in Freundschaft verbunden war, und von EU-Kommissar Günther Verheugen. Kaum waren wir aufgenommen, konnten wir die Hände aufhalten, um uns samt unserer Wirtschaft den EU-Standards zu nähern. Und mit den Jahren stiegen – als käme das alles von allein – die Ansprüche, sowohl unsere als auch die von vielen EU-Mitgliedsstaaten an uns. In unsere Regierungen kamen neue unerfahrene Politiker, die unter dem Druck der Öffentlichkeit immer mehr von der EU forderten und gleichzeitig die Leitung der EU kritisierten, anstatt vor allem die Korruption zu bekämpfen.
Warum scheinen die Grundüberzeugungen westlicher Demokratien für die Nationen im Osten so wenig reizvoll zu sein?
Schuster: Das hat viel mit Psychologie zu tun. Während wir im alten kommunistischen Regime lebten, sehnten wir uns in Wirklichkeit nach diesen westlich demokratischen Wertvorstellungen – gepaart mit dem für uns unerreichbaren hohen Lebensniveau, der Reisefreiheit, der Informations- und Medienfreiheit, der Religionsfreiheit und der unabhängigen Justiz. Als wir dann den grundlegenden politischen Wechsel im Jahre 1989 erlebten und EU-Mitglieder wurden, waren wie durch einen Zauberschlag die Geschäfte auch bei uns voll von allen Dingen, die wir uns gewünscht hatten. Die unglückliche Privatisierung der staatlichen Betriebe machte die meisten Menschen, die davon nichts hatten, wütend. Für sie war es Missbrauch der politischen Macht. Auch ich habe das in jenen Jahren so empfunden, was mich motivierte, eine eigene Partei zu gründen. Jeder Vergleich hinkt. Doch wer vor Augen hat, wie kritisch die Menschen in der früheren DDR die Privatisierung ihrer einstigen Staatsbetriebe nach der Wende beurteilten, wird manche Parallelen erkennen.
Wie groß sehen Sie die Gefahr, dass sich osteuropäische Staaten wieder Russland zuwenden?
Schuster: Ich denke, dass so etwas für die Zukunft nicht droht. Schließlich haben wir unsere eigenen fatalen, sehr traurigen Erfahrungen. Dazu gehört der Einmarsch unseres „sowjetischen Freundes“ im Jahre 1968 zur Niederschlagung der Freiheitsbewegung unter Alexander Dubcek in der Tschechoslowakei. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eines der früher kommunistischen Länder des einstigen Ostblocks wieder dorthin gehören möchte. Allerdings bin ich ein Anhänger gutnachbarschaftlicher Beziehungen zwischen der EU und Russland. Die Bundesrepublik hat auf diesem Gebiet kluge Vorarbeit geleistet. Das gemeinsame russisch-deutsche Projekt der Gasleitung „Nord Stream“ ist ein Beispiel.
Welche Konstellation hat die Europäische Union Ihrer Meinung nach in zehn Jahren?
Schuster: Als Optimist und leidenschaftlicher Europäer glaube ich an eine erfolgreiche Zukunft der EU, in der die Slowakei engagiert und konstruktiv mitwirkt. Ich persönlich sehe für unser Land keine bessere Zukunft als in der EU. Ziehen wir in der EU wieder an einem Strang in die gleiche Richtung! Beseitigen wir Fehler der bisherigen Zusammenarbeit in der EU, und zwar in gegenseitigem Respekt und immer auf gegenseitiger Augenhöhe.
Welche heutigen Mitgliedsstaaten sind nicht mehr, welche sind neu dabei?
Schuster: Abgesehen von der weiteren Entwicklung in Großbritannien, die auch ich nicht vorhersagen mag – ich wünschte, der Brexit würde nicht stattfinden! – sehe ich kein Land, das die EU verlassen wird. Das gilt auch für die Ländergruppe der Visegrad-Staaten. Die übrigen EU-Länder mögen bitte den Menschen in Ostmitteleuropa mehr Zeit geben, um ihnen bislang fremde Probleme neu zu durchdenken. Damit spreche ich erneut das Thema Integration von Flüchtlingen an. In Westeuropa wird darin oft eine Art Trotzreaktion gegen Bevormundung gesehen. Aus meiner Sicht ist das viel zu oberflächlich. Wir schleppen auch noch 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schlimme Erfahrungen mit der einstigen kommunistischen Kommandowirtschaft mit uns herum. Gegenüber der EU bin ich sowohl für mein Land als auch für mich selbst voller Dankbarkeit.
Sie haben es als Vertreter einer Minderheit in der Slowakei zum Oberbürgermeister von Košice und dann sogar zum Präsidenten gebracht. Wäre so eine Karriere in Ihrem Land heute noch möglich?
Schuster: Da bin ich skeptisch. Bei mir ist vieles zusammengekommen. Doch wer weiß, ob nicht auch in Zukunft eine junge Frau oder ein junger Mann zur richtigen Zeit und mit den richtigen Ideen die Hand hebt, die besten Mitstreiter findet und die Mehrheit der Wähle begeistern kann? Ich würde mich freuen.
Was hätten Sie als Präsident gemacht, wenn Donald Trump Sie so weggeschubst hätte wie den Staatschef Montenegros auf dem Nato-Gipfel in Osaka?
Schuster: So etwas ist mir erspart geblieben. Ich habe in meiner Zeit als Staatspräsident praktisch alle Großen dieser Welt getroffen. Das waren immer respektvolle Begegnungen.