Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand der Plan eines großen Rathauses in Barmen. Es sollte größer werden als das 1900 eingeweihte Rathaus in Elberfeld. Der erste Weltkrieg verzögerte die Bauarbeiten, so dass erst am 23. April 1921 das Barmer Rathaus eingeweiht werden konnte. Der Bau wurde in einem neoklassizistischen Stil erbaut. Woran erkennt man das?
100 Jahre Barmer Rathaus Monumentale Architektur mit kolossalen Figuren
Barmen · Doris Lehmann von der Bergischen Universität spricht im Interview über die Bauplastiken des vor 100 Jahren erbauten Barmer Rathauses.
Doris Lehmann: Man erkennt den neuklassizistischen Stil, wenn man die Fassade des Repräsentationsbaus genau ansieht. Hier wecken die zum Gebäude führende Treppe mit den flankierenden Skulpturen, die Fassadengliederung durch Säulen und die bekrönende Attika mit darauf stehenden Figuren Assoziationen mit antiken oder klassizistischen Bauformen. Das unterscheidet sich erkennbar von beispielsweise neugotischen Rathäusern, die mittelalterliche Vorbilder rezipierten.
Die Gestaltung und die Kombination der Formen am Barmer Rathaus sind auf eine Art antikisch, die ihre Entstehung nach 1900 verrät: Um die Regelhaftigkeit des Baus zu betonen, wurde auf Grenzen überspielendes Dekor verzichtet. Die ausgewählten architektonischen Würdeformeln ordnen die Schauseite horizontal und vertikal klar. Untypisch für eine antike Baugliederung sind die von Säulenpaaren getragenen geschossübergreifenden Kolossalsäulen. Nicht die Nutzung des Gebäudes als Rathaus erforderte dies, sondern seine Aufgabe als Repräsentationsbau.
Der Dresdner Bildhauer Richard Guhr konzipierte für das Haus sogenannte Bauplastiken, die der Barmer Bildhauer Heinrich Ostlinning ausführte. Was sind Bauplastiken?
Lehmann: Bauplastiken sind figürlich gestaltete Bildwerke, die als wesentliche Bestandteile eine Architektur ergänzen und schmücken. Im Fall des Barmer Rathauses erfüllen die Bauplastiken nicht nur dekorative Zwecke, sie vermitteln auf repräsentative Weise die Funktion des Gebäudes und stellen es in einen größeren Zusammenhang.
Acht dieser Figuren schmücken die Attika. Die Modelle stellen die Aufgaben der Kommunen dar, also Wohlfahrtspflege, allgemeine Verwaltung, Tiefbau, Rechtspflege, Gesundheitspflege, Hochbau, Finanzverwaltung und Schulverwaltung. Das bevorzugte Material war meist Kalk- oder Sandstein. Kann man das am besten bearbeiten?
Lehmann: Sandstein ist in der Tat in Deutschland als Baumaterial sehr weit verbreitet, weil es sich sehr gut zur Bearbeitung eignet. Die Beliebtheit hängt aber auch damit zusammen, dass dieser Werkstein durch den einheimischen Abbau leichter zur Verfügung steht als andere Steinsorten. Sandstein ist gut haltbar, auch wenn es technische Unterschiede je nach der Zusammensetzung gibt. Kalkstein zählt dem gegenüber zu den sehr festen Werksteinen, wird also wegen seiner Festigkeit geschätzt. Seine Widerstandsfähigkeit gegen Frost bietet Bauherren und Architekten insbesondere für den Außenbereich Vorteile.
Die Figuren wirken in ihrer Gewandung, ihrem Haarschnitt und den teilweise üppigen Bärten sehr antik und opulent. Warum stellte man sie so dar?
Lehmann: Die Attika-Figuren sollten stilistisch zu der Architektur passen, darum wurden auch sie antikisch entworfen. Ihre Darstellungsweise ist inspiriert von klassischen Skulpturen: Das Gesundheitswesen steht in der Tradition antiker Äskulap-Statuen. Damit sind Haar- und Barttracht erklärbar, ebenso der Stab mit der darum gewundenen Schlange. Bei den Attika-Figuren müssen wir bedenken, dass ihre Lesbarkeit unmittelbar mit ihrer Aufgabe am Bau verknüpft ist: Sie müssen aus der Ferne und aus der Untersicht erkennbar sein. Außerdem stehen sie in jeweils in einer Achse mit den Säulen, zu denen müssen sie proportional passen. Die antike Gewandung entspricht also dem Gesamtkonzept der klassisch geprägten repräsentativen Wirkung. Ein Detail wie ein sich bauschendes Gewand zielt nicht auf Opulenz, sondern soll der entsprechenden Figur ein würdevoll angemessenes Maß an Bewegtheit verleihen.
Auch die beiden flankierenden Frauengestalten der großen Freitreppe zum Haupteingang, welche zum einen die „Rhenania“ darstellen, die Barmens Zugehörigkeit zur preußischen Rheinprovinz symbolisiert, sowie die „Barmenia“ sind in diesem Stil gearbeitet. Gehören solche mächtigen Skulpturen traditionell zu dieser Art der Monumentalkunst?
Lehmann: Es ist in der Praxis konsequent, monumentale Architektur mit kolossalen Figuren zu kombinieren und dabei auf stilistische Einheitlichkeit zu achten. Wenn die Architektur und ihre Skulpturen nicht zueinander passen, zum Beispiel die Figuren im Verhältnis zu klein wären, dann könnten sie lächerlich wirken. Diese Überlegung bezog im Fall des Barmer Rathauses wohl auch die Platzgestaltung mit ein und damit auch das dort bereits befindliche Bismarck-Denkmal, das für den Neubau versetzt wurde.
Über dem Seiteneingang an der Wegnerstraße wurde ein vom Barmer Bildhauer Georg Kauper in Muschelkalk ausgeführtes Relief angebracht. Das Relief zeigt unter anderem einen Löwenkopf, Putten, einen verwundeten Soldaten und ein junges Mädchen. Wie wichtig sind Symbole in der bildhauerischen Kunst?
Lehmann: Symbole sind für plastische Darstellungen geeignet, um auf komplexe Inhalte vereinfacht und ohne erklärende Worte hinweisen zu können. Die Bildsprache ist je nach Adressaten und Kontext aber auch variabel, ein Symbol kann also unterschiedliche Bedeutungen haben. Für das Barmer Rathaus dürften lokalspezifische und damals relevante Bezüge eingearbeitet worden sein. Der Stolz auf die Krankenpflege passt zu dem damaligen Engagement in diesem Bereich.
An der Westseite des Rathauses, am heute geschlossenen Eingang am Heubruch, findet sich eine Bronzefigur des aus Elberfeld stammenden Bildhauers Paul Wynand, der auch bei Auguste Rodin gelernt hat. Die Figur symbolisiert die für Barmen so wichtige Textilindustrie. Waren diese Plastiken eigentlich feste Auftragsarbeiten, oder wollte man einfach nur namhafte Künstler verpflichten, die dann in künstlerischer Freiheit Skulpturen erschufen?
Lehmann: Künstlerische Freiheit für eine öffentlich repräsentative Fassade können wir für die Zeit um 1920 nicht als realistisches Auftragsszenario annehmen. Selbst Rodin besaß diese Freiheit nicht. Bis heute sind öffentliche Aufträge kein Arbeitsbereich, in dem bildende Künstler*innen tun und lassen können was ihnen beliebt.
Es gibt bekannte Fälle, in denen es Streit gab zwischen öffentlichen Auftraggebern und Künstlern, deren künstlerische Eigenständigkeit als Affront aufgefasst wurde, weil Vorgaben nicht eingehalten wurden. Wir müssen davon ausgehen, dass im Fall der Plastiken für die Fassadengestaltung des Barmer Rathauses zu erfüllende Aufgaben definiert wurden. Vermutlich wurden die Aufträge ausgeschrieben, das konnte auch in Rahmen eines eingeschränkten Wettbewerbs geschehen.
Verschiedene Künstler dürften Entwürfe eingereicht haben, über die eine Kommission entschied, die dann die Auftragsvergabe beschloss und bei Bedarf auch Änderungen fordern konnte. Je nach Komplexität der Verwaltung musste die Angelegenheit durch verschiedene Gremien.
Falls Akten und Briefe zu diesen Aufträgen erhalten sind, könnte diese als historische Quellen solche Fragen beantworten.