Existenzgründung: Der Laden Wuppertalerin berichtet von ihrer Kindheit an der Hünefeldstraße - Teil 4
Wuppertal · Eine kleine Holzbaracke als Kiosk.
Im Jahr 1953 war mein Papa immer noch arbeitslos, ebenso wie mein Opa in Dahlerau. Oma hatte im Juli Geburtstag und wir fuhren mit der Eisenbahn vom Bahnhof Unterbarmen nach Dahlerau. Wir Kinder hatten für die Oma Bilder gemalt und freuten uns auf ihr Gesicht und ihren leckeren Kuchen. Die Großeltern holten uns vom Bahnhof ab und wir hatten einen schönen Nachmittag.
Plötzlich waren Papa und Opa im Nachbarzimmer verschwunden und wir durften sie nicht stören. Sie hatten etwas über Arbeit zu besprechen. Mama und Oma gingen mit uns spazieren. Dann, als wir zurückkamen, erfuhren wir, dass Opa ein Geschäft eröffnen wollte. Opa war nur elf Jahre älter als mein Papa, weil Mama 17 Jahre jünger war als Papa. Also war Opa zu der Zeit 54 und Papa war 43. Beide waren auch zur damaligen Zeit schon nicht mehr die Jüngsten, beide hatten eine kaufmännische Ausbildung und es war schwer, in der Nachkriegszeit eine entsprechende Stelle zu finden.
Opa kam aus gutbürgerlichem Hause. Seine Eltern betrieben vor dem Krieg ein Kaufhaus in Schwelm. Er sollte nach der Schule dort mit einsteigen, das wollte er aber nicht. Er absolvierte woanders eine Ausbildung im Einzelhandel und arbeitete dort, bis er als Soldat in den 1. Weltkrieg musste. Zum Glück kam er gesund zurück und eröffnete mithilfe seiner Eltern ein eigenes Geschäft, was aber in den 20er-Jahren nicht so einfach war. Zuerst lief es gut, aber dann kam die Wirtschaftskrise und die Geschäfte liefen schlechter. 1925 lernte er meine Oma in Barmen kennen und ein Jahr später wurde geheiratet. Ihr erstes Kind war meine Mama Ilse. Nun musste Opa Geld verdienen und er eröffnete ein Elektrofachgeschäft für Radiozubehör in Köln. So kam es, dass meine Mama in Köln geboren wurde. Es kamen später noch zwei weitere Kinder dazu.
Gute rhetorische Fähigkeiten und Überzeugungskraft
Dann zog es ihn wieder nach Wuppertal und er war mit diversen Unternehmungen im Einzelhandel selbstständig. Opa hatte einen etwas herrischen Charakter und konnte sich nicht gut unterordnen. Deshalb konnte und wollte er nicht als Angestellter arbeiten. Er hatte gute rhetorische Fähigkeiten und Überzeugungskraft und konnte mit Menschen umgehen. Er war ein guter Verkäufer und Geschäftsmann. Der 2. Weltkrieg brach aus und Opa musste wieder in den Krieg. Auch hier kam er körperlich unbeschadet zurück zu Frau und Kindern nach Dahlerau. Dann hatte er die beste Idee seines Lebens, wie er später sagte. Er war von Jugend an Philatelist und sammelte leidenschaftlich Briefmarken. Das war damals sehr verbreitet und beliebt und er hatte sich ein großes Fachwissen angeeignet. Regelmäßig studierte er die aktuellen Briefmarkenkataloge und kannte die Preise. Er hatte eine größere Sammlung durch die Kriege retten können und das war sein Kapital zur Existenzgründung. Schließlich mietete Opa ein kleines Ladenlokal direkt am Pfeiler an der Endstation der Schwebebahn in Vohwinkel. Es hatte einen kleinen Verkaufsraum mit Theke und ein Hinterzimmer zum Hof hin.
Nach kurzer Zeit lief der Laden gut. Er hatte feste Kunden, von Schulkindern angefangen bis zu älteren Herren. Mittwochs fuhr Opa nach Düsseldorf oder Köln zu Fachmessen und Börsen und kaufte neue Ware ein. Dann musste Oma aus Dahlerau kommen und den Laden hüten, da nachmittags oft Schüler kamen und sogenannte „Abwaschbeutel“ kauften. Das waren Beutelchen mit einfachen Briefmarken, die man zu Hause abwaschen, also mit Wasser oder Wasserdampf von dem Brief oder der Postkarte ablösen musste, und die dann vorsichtig mit Pinzetten auf Zeitungspapier gelegt wurden, bis sie getrocknet waren. Dann wurden sie mithilfe der Pinzette in entsprechende Alben gesteckt. Man musste aufpassen, dass keine Zacken abbrachen, dann war die Briefmarke nichts mehr wert.
Auch wir Kinder sammelten später eifrig und bekamen von Opa die eine oder andere besondere Marke und eben die Abwaschbeutel für Anfänger. Jeder von uns bekam ein großes Album. Wir haben untereinander und mit Freunden getauscht, als wir älter waren. Durch die ausländischen Marken lernten wir die eigenen Namen europäischer Länder kennen, wie zum Beispiel „Suomi“ für Finnland und „Helvetia“ für die Schweiz, „Sverige“ für Schweden. Das fand ich als Kind hochinteressant und beflügelte damals schon mein Fernweh und das Interesse an fremden Ländern und Kulturen.
Der einzige Nachteil an diesem Geschäft war für meine Großeltern die Entfernung. Opa hatte kein Auto und war auf die Eisenbahn angewiesen. Zum Pendeln war es von Vohwinkel bis Dahlerau zu weit und Opa richtete sich im Hinterzimmer ein Bett für die Nacht. Ein Kohleofen sorgte für Wärme und Opa konnte sich auch mal einen Kaffee kochen. Wasseranschluss war auch vorhanden. Er kam nur am Wochenende nach Hause. Alle waren so weit zufrieden, das Geschäft lief und man hatte wieder ein gutes Einkommen. Opa betrieb das Geschäft bis zu seinem 65. Geburtstag erfolgreich. Papa hatte ihm jedes Jahr die Jahresbilanz für das Geschäft angefertigt, denn Papa war Bilanzbuchhalter und Bücherrevisor und hatte vor dem Krieg viele Jahre für eine landwirtschaftliche Genossenschaft bei Breslau gearbeitet.
Dass das Geschäft so erfolgreich lief, konnte man im Voraus nicht ahnen. Papa ließ sich von Opas Begeisterung anstecken und ließ sich auf Anraten meines Opas und den Überredungskünsten meiner Mama überzeugen, selbst ein Geschäft zu eröffnen.
Allerdings hatte er als Heimatvertriebener kein Kapital und musste klein anfangen. Der Staat stellte damals diesen Heimatvertriebenen, vielleicht auch Flüchtlingen aus dem Osten Deutschlands, Geld zur Eingliederung zur Verfügung, den Lastenausgleich. Das habe ich als kleines Kind immer wieder zu Hause gehört, und Papa musste diverse Anträge ausfüllen. Endlich bekam er das Geld ausgezahlt, die genaue Summe weiß ich nicht, ich war ja damals erst vier Jahre alt! Aber ich meine, es müssten circa 3000 Mark gewesen sein.
Papa mietete sich auf einem Brachland an der Haspeler Brücke, auf dem Gelände des heutigen Universitätscampus für Bautechnik, eine kleine Holzbaracke als Kiosk. Vorne war eine Eingangstür aus Holz und daneben war ein kleines Fenster. In der Mitte stand eine Holzpritsche als Verkaufstheke. An den Wänden waren Holzregale, die die Höhe einer Zigarettenschachtel hatten. Denn Papa wollte Zigaretten, Zigarren, Tabak, Getränke und Zeitschriften verkaufen, aber keinen Alkohol.
Auf der Friedrich-Engels-Allee, Nähe Völklinger Straße, war ein Tabakgroßhandel. Dort kaufte er von jeder gängigen Zigarettenmarke fünf Schachteln. Tabak, Kautabak von Hahnewacker, auch Priem genannt, und einige Zigarren und sogenannte Stumpen von „Weißer Rabe“ oder „Weiße Eule“ kamen hinzu. Das waren die billigeren Zigarren, die Papa auch schon mal paffte. Da Papa kein Auto hatte, transportierte er die Ware in einem alten Kinderwagen. Wir Kinder waren wie immer dabei und hatten wieder unseren Spaß.
Im Laden wurden dann die Waren ausgepackt. Da gab es exotische Zigarettennamen und Schachteln wie Orienta, Senussi, Golddollar, Overstolz und Rothändle. Das waren wohl die stärksten oder ungesundesten Zigaretten, denn es gab folgenden Spruch: „Kennst du die Kreuze am Wegesrand, das sind die Toten der Roten Hand“, also Rothändle.
Die Schachteln wurden in die Regale gestellt, vier wurden gelegt und eine hochkant davor gestellt, sodass es übersichtlich war. Zeitungen und Zeitschriften wurden geliefert, unter anderem der Wuppertaler Generalanzeiger, die heutige WZ. Es gab Funkzeitungen wie die Hörzu, in denen die Radioprogramme abgedruckt waren, denn es gab noch keine Fernseher in den Familien. Für Frauen gab es Schnittmusterheft von Burda. Da konnten sie sich ihre eigenen Kleider nähen.
Für die Schulkinder gab es die ersten Comic-Hefte. Ich erinnere mich an kleine Heftchen, die das Format der Hälfte eines DIN-A4-Blattes hatten. Es waren die Geschichten und Abenteuer zweier Ritter, Sigurd und Bodo. Die waren damals bei den Jungs besonders beliebt und nicht so teuer wie die größeren Hefte von Rolf Kaukas Fix und Foxi oder später die Micky-Maus-Hefte.
Unser Laden war zwar ärmlich, aber die Geschäftslage war gut. Es kamen viele Mitarbeiter des gegenüber liegenden Amts- und des Landgerichts vorbei und versorgten sich mit Tabak und Zeitungen. Die Schwebebahnhaltestelle Landgericht war auch nicht weit und es kamen viele Schulkinder vorbei. Mein Opa hatte eine künstlerische Ader und fertigte für Papa schöne Plakate, so wie er es in seinem Laden in Vohwinkel auch für sich machte.
Zu Anfang lief alles gut. Aber mein Papa war nicht so ein gewiefter Geschäftsmann wie mein Opa. Er war viel zu weich und gutmütig, eigentlich eher ein Träumer. So ließ er die Jungs vorab die Sigurd-und-Bodo-Hefte lesen, sodass sie zerfledderten und nicht mehr zu verkaufen waren, und so ging es mit anderen Zeitschriften auch. Er sagte immer, wenn so ein altes Mütterchen käme, vielleicht eine Kriegerwitwe mit wenig Geld, könne er nicht Nein sagen und ließ sie die Zeitschriften lesen, sodass er sie nicht mehr verkaufen konnte. Sie erinnerten ihn wohl an seine eigene Mutter, die er seit 1940, als er in den Krieg eingezogen wurde, nicht mehr gesehen hatte. Sie musste aus Breslau fliehen und lebte zuletzt in einem Heim in Halle an der Saale. Er wollte sie so gern nach Wuppertal holen, aber das ging nicht aufgrund der Wohnverhältnisse damals. Leider ist sie dann kurz nach der Hochzeit meiner Eltern 1948 gestorben. Das war für Papa ein schlimmer Schlag und er ist, glaube ich, nie wirklich darüber hinweggekommen.
Ein Einbruch sorgte für einen argen Rückschlag
Im Winter konnte man den Laden nicht heizen, sodass Papa im Wintermantel dastehen musste. Auch Kriminalität war damals kein Fremdwort. Eines Nachts wurde bei ihm eingebrochen und fast die ganze Ware gestohlen. Das war ein arger Rückschlag. Die Kripo nahm alles auf, aber die Diebe wurden nicht gefunden. Die Versicherung zahlte den Gebäudeschaden, der Papa hatte aber unterm Strich erst mal Verluste.
Nach dem Einbruch kam dann wieder der alte Kinderwagen zum Einsatz. Die gesamte Ware wurde abends da hineingepackt und wir zogen am Hardtufer entlang der Wupper zu unserem Zuhause in die Hünefeldstraße, da weitere Einbrüche zu befürchten waren. Wir Kinder waren immer dabei und fanden den Transport im Kinderwagen ganz normal, eher lustig. Papa hat unterwegs auch immer Witzchen gerissen. Am nächsten Morgen ging es dann mit dem Kinderwagen voller Zigaretten und Tabak zurück zum Laden.
Für meinen Bruder und mich war das alles ein großes Abenteuer, aber für die Eltern war es wohl nicht immer so prickelnd. Mein Bruder und ich sammelten unterwegs leere, gut erhaltene Zigarettenschachteln und seltene Streichholzschachteln. Damit spielten wir zu Hause verkaufen.
So lief es noch einige Monate mehr schlecht als recht für Papa. Er war nicht zum Verkaufen geboren. Der zweite Einbruch, der wenig später erfolgte, diesmal Getränke und Zeitschriften, gab ihm den Rest und er gab mit einem lachenden und einem weinenden Auge dieses Geschäft auf. Wir hatten unseren Papa wieder ganz für uns zu Hause. Aber er hatte schon weitere Ideen und Träume, die er verwirklichen wollte. Es sollte aber noch etwas dauern, bis er sie umsetzen konnte. Ich werde später davon berichten.