„Unbekannt verzogen“: Protokoll einer Reise in den Tod

Polizist Wilhelm Meurin schrieb 1941 einen Bericht über die Verschleppung von Juden nach Minsk. Das Dokument war lange verschollen.

Wuppertal. „Unbekannt verzogen“ — so lautete der Eintrag, der in den städtischen Melderegistern für jene Juden vorgenommen wurden, die ab Herbst 1941 „evakuiert“ wurden. Der Jargon jener Zeit war so weit entfernt von der bitteren Realität, dass es nicht verwundern sollte, wenn zahlreiche Details der Deportationen nur unzulänglich dokumentiert sind. So erklärt sich auch, warum bislang der 9. November 1941 als Datum für einen Transport vom Bahnhof Steinbeck ins Ghetto Minsk angenommen wurde. Dem Düsseldorfer Historiker Bastian Fleermann gelang 2012 ein aufsehenerregender Fund — der unter anderem belegt, dass die damals verschleppten Wuppertaler Juden erst am 10. November 1941 den Weg in den sicheren Tod antraten.

Für europaweites Aufsehen sorgte der Fund, über den Fleermann am Dienstagabend in der Begegnungsstätte Alte Synagoge referierte, freilich aus einem anderen Grund. Über Jahrzehnte galt ein vertraulicher Bericht des Transportleiters Paul Salitter als der einzige erhaltene Report von Täterseite. Mit dem neuen Dokument, abgefasst von dem Schutzpolizisten Wilhelm Meurin (kleines Foto links: Archiv), liegt inzwischen eine Ergänzung vor, die es ermöglicht, besseren Einblick in die psychologischen Tiefen der Handelnden zu gewinnen.

Diese Tiefen erweisen sich als wahrlich erschütternd, wie Fleermann in seinem eindrucksvollen Referat belegte. Sechs große Deportationen aus Düsseldorf habe es gegeben, die letzte gar noch im Januar 1945, als Deutschland längst im Chaos versunken war. Die Gesamtzahl der von Düsseldorf verschleppten Juden könne nur geschätzt werden, sie belaufe sich auf rund 6000 bis 8000. Üblicherweise seien die Juden zunächst zum Schlacht- und Viehhof beim Güterbahnhof Derendorf gebracht worden, wo man sie inmitten von Blut und Exkrementen der Tiere einer Leibesvisitation unterzog und ihnen nicht selten Wertgegenstände raubte. Die Deportation vom November 1941 bildete insofern eine Ausnahme, als die Wuppertaler Juden in diesem Fall erst in Steinbeck zustiegen.

Meurin, der später an der Front fiel, war nach Fleermanns Überzeugung nicht etwa nur ein Befehlsempfänger, der sich dem Diktat von oben beugte. Sein Bericht und sein Lebenslauf würden vielmehr belegen, dass da jemand mit Überzeugung und Enthusiasmus agierte. Akribisch beschrieb er die klirrende Kälte in den unbeheizten Waggons, ohne ein Wort über das Leid der Verschleppten zu verlieren. Nachdem er den Transport nach Minsk geleitet hatte, verfasste er gar noch Optimierungsvorschläge, die er seinen Vorgesetzten unterbreitete. Darunter findet sich auch der Eintrag, dass Maschinengewehre oder Handgranaten sinnvoll seien, um das Diktat über die Züge weiter zu festigen.

Unfassbar ist Meurins Darstellung, wonach die Juden, als sie nach 96-stündigem Transport in Minsk eintrafen, sich erst einmal in sexuellen Ausschweifungen ergingen. Offenkundig hätten solche Berichte nur der Diffamierung gedient, schloss Fleermann. Wahrheit ist unterdessen, dass nur fünf Juden das Ghetto Minsk überlebten.