Begrabt mein Herz in Wuppertal „Wir gehen nur eben SPD wählen“
Kolumnist Uwe Becker erinnert sich an Wahlsonntage mit Braten und Testbild.
Meine Eltern haben immer SPD gewählt. Ich kannte das nicht anders. Am Wahlsonntag stand mein Vater, wenn es eine Herbstwahl war, schon stundenlang im Mantel auf dem Flur. Er wartete auf meine Mutter, und die wiederum darauf, dass ihr Nagellack endlich trocken war. Ich glaube, heute geht das schneller, weil der Fortschritt wohl kaum ausgerechnet am Nagellack tatenlos vorbei gegangen ist. Ich bin mir allerdings jetzt gerade nicht so sicher. Meine Eltern gingen nach dem Frühstück direkt los, damit die Sozialdemokraten schon mal eine gute Grundlage haben, wie mein Vater immer zu sagen pflegte. Das Mittagessen war am Sonntag auf 13 Uhr terminiert. Der Braten war längst fertig gegart und hielt sich im Backofen warm. Die Kartoffeln lagen geschält im Salzwasser. Wenn die Erdäpfel gar waren, öffnete mein Vater die große Dose mit Erbsen und Möhren, und zauberte aus dem Fond des Bratens die köstliche Soße, deren Rest er am Abend warm auf einer Schnitte Brot verköstigte. Ich begleitete meine Eltern nicht zum Urnengang, sondern nutze ihre relativ kurze Abwesenheit, um irgendwas im Fernsehen zu schauen, auch wenn es nur das Testbild war. Als Wahllokal diente die fußläufige Grundschule, die ich leider täglich für ein paar verlorene Stunden inspizieren musste. Meine Mutter verabschiedete sich von mir mit den Worten: „Mach’ keinen Unsinn, wir gehen nur eben SPD wählen, und sind schneller zurück, als du glaubst!“ „SPD wählen“. Meine Erzeuger gingen nicht einfach nur „wählen“, sie gingen „SPD wählen“. Irgendwann war die Zeit gekommen, da durfte ich auch zum ersten Mal an einer Wahl teilnehmen. Es war der 19. November 1972, als ich, gerade 18 Jahre alt geworden, endlich auch einmal SPD wählen konnte. Und das direkt mega erfolgreich. Es war das beste Ergebnis, das die Sozialdemokraten je bei einer Bundestagswahl erzielt hatten: 48 Prozent und ein paar Kaputte. Heute freut sich die Partei bereits, wenn hinter dem Komma eine Neun steht. Großen Ärger bekam ich damals, weil ich in der Firma, in der ich als Bürofachkraft aushalf, stolz meinen „Willy wählen“-Button trug. Mein Chef war ein hohes Tier beim hiesigen Unternehmerverband. Welches Tier er verkörperte, das sage ich lieber nicht, ich bin mir nicht sicher, ob er noch lebt. Mein Boss war aber, das kann ich hier schreiben, ein ganz schlimmer Sklaventreiber und hochgradig unsympathisch. Er hatte aber leider, wie viele reiche Blödmänner, eine recht schöne, nette Frau, eine für ihn, wie ich fand, viel zu schöne, nette Frau. Aber egal. Jedenfalls kam ich seiner Aufforderung, den Button abzulegen, nicht nach. Als ich den Anstecker am Montag nach der Wahl immer noch trug, bat er mich, hochgradig verärgert, das Ding nun in Gottes Namen endlich abzulegen. Äußerst gut gelaunt, tat ich, der erfolgreiche SPD- Erstwähler, ihm den Gefallen. Ich erinnere mich, dass ich in den Folgejahren des öfteren die SPD gewählt habe, kurzfristig sogar als Mitglied der Jusos. Als Willy Brandt zurücktrat, erklärte ich ebenfalls meinen Abschied von der Sozialdemokratie.
1998 keimte kurz Hoffnung auf, als das Duo Schröder/Fischer die Politszene rockte und die Kohl-Ära beendete. Wie der Quatsch ausging, wissen wir ja alle. Meine Mutter wählte trotzdem bis zu ihrem Tod mit beiden Stimmen die Sozis. Es gab nur eine Ausnahme, als ich 2006 für die Partei Die PARTEI als Direktkandidat antrat, und aus dem Stand 0,6% der Erststimmen (943) erhielt. Meine Mutter rief damals aus der Wahlkabine: „Uwe, wo stehst du denn auf dem Zettel?“ Da es damals noch keine Wahlbeobachter gab, antwortete ich daher unbesorgt: „Ganz unten, Mutter!“ Im Grunde fehlte nur noch, dass die anwesenden Wahlhelfer applaudierten. Die SPD von heute scheint aus der Mode gekommen zu sein. Zur Zeit liegt diese Partei im Bund bei 16%. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, auch im Namen meiner verstorbenen Eltern, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wieder zu ihrer alten Stärke zurückfindet. Gerade jetzt, wo die Partei Hartz IV hinter sich lassen will, sollten alle Verantwortlichen gemeinsam versuchen, die Karre aus dem Dreck zu ziehen. Das Problem: Alt-Kanzler Gerhard Schröder erinnert sich nicht mehr, wo er sie damals abgestellt hat!