Kolumne „Olam haba“ heißt „die kommende Welt“

Wuppertal · Seit Jahrtausenden haben sich die Menschen in fast allen Kulturen dieser Erde Gedanken darüber gemacht, was wohl am Ende des eigenen Lebens sein würde und wie sich das Leben auf diesem Globus entwickeln würde.

Wuppertal

Foto: Fries, Stefan (fri)

Nach den ältesten Überlieferungen im Judentum waren die Lehrer des Volkes, allen voran Mosche, darauf bedacht, die Menschen zu einem guten Leben in dieser Welt anzuleiten.

Das Gegenteil von „Olam haba“ lautet dann auch „Olam hasä“ („diese Welt“). Die 613 Gebote und Verbote in der Tora sind Weisungen für ein gutes Miteinander unter den Menschen, einen fürsorglichen Umgang mit der Natur und eine ehrfürchtige Haltung vor dem Schöpfer des Himmels und der Erde. Der Prophet Micha hat das im Kapitel 6,7 so zusammengefasst: „Verkündet hat ER dir, oh Mensch, was gut ist und was ER von dir fordert, Recht zu üben und Güte zu lieben und besonnen zu wandeln mit deinem Gott.“ Von den Verstorbenen sagte man: „Sie versammelten sich zu ihren Vätern“. Man hatte eine nicht näher definierte Vorstellung von einem Totenreich. Erst in späteren Schriften und in den Diskussionen im Talmud tauchte dazu eine Reihe von teils phantasievollen Entwürfen auf.

Obwohl man in der Antike für alle Wege sehr viel mehr Zeit brauchte, verbreiteten sich die Ideen von Philosophen und Dichtern über alle Länder. Unter persischem und griechischem Einfluss und natürlich durch die bedrängenden Erfahrungen von Krieg und Verfolgung entwarfen die späteren Propheten Bilder einer besseren Welt, einer messianischen Zeit, in der es keine Kriege mehr geben und all das Elend dieser Welt unter Menschen und Tieren einen Wandel zum Guten erfahren würde. (Jes. 65,17 ff.)

Bekanntlich gab es schon unter den Israeliten immer vielerlei Meinungen, die auch temperamentvoll diskutiert wurden. Zwei wichtige Gruppen waren die Sadduzäer und die Pharisäer. Die Sadduzäer, die mehrheitlich der Oberschicht angehörten, stellten auch die Priester. Die Pharisäer waren volksnahe Lehrer und Wanderprediger. Sie kannten die Leiden und Nöte der einfacheren Bevölkerung und setzten sich für sie ein. Die Sadduzäer lehnten den Gedanken an eine messianische Zeit, die von den Pharisäern in der Nachfolge der Propheten verkündet wurde, rigoros ab. Sie arrangierten sich in der Regel mit den Mächtigen und wollten keine andere Welt. Die Forderungen der Pharisäer nach Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person, auch nach Reinheit des Kultes, ebenso nach Armenpflege, standen ihren eigenen Interessen entgegen. Es kam hinzu, dass die Sadduzäer rein nationale Interessen verfolgten. Das war natürlich ihr gutes Recht und dies lässt sich aus den Heiligen Schriften durchaus herauslesen. Aber es war ein verkürztes Lesen, das die Universalität, die in allen Büchern zum Ausdruck kommt, vollkommen übersah oder bewusst ausklammerte. Nicht von ungefähr wurden wir schon im Schöpfungsbericht, in den Geschichten von Noah und vom Turmbau zu Babel darauf hingewiesen, dass wir alle Kinder einer Menschenfamilie sind. Die besondere Beziehung des Volkes Israel zu diesem Schöpfergott ist dabei kein Privileg, sondern eine Verpflichtung, immer wieder der Einheit dieser Völkerfamilie unter den Augen Gottes zu dienen. Wie lange es bis zum Beginn der messianischen Zeit dauern wird, wissen wir bis heute nicht. Allerdings wurden wir immer wieder darauf hingewiesen, dass unser Verhalten dabei durchaus eine Rolle spielt.

Was haben diese alten Geschichten mit uns heute zu tun? Im Gegensatz zu damals kennen wir inzwischen nahezu jeden Winkel auf diesem schönen blauen Planeten. Globalisierung und Digitalisierung haben jedoch die Menschen einander nicht nähergebracht, im Gegenteil. Es entsteht der Eindruck, dass unbegründeter Hass, Gier und Zerstörungswut unter uns Menschen noch nie so groß waren. Und plötzlich kommt da ein dem menschlichen Auge nicht wahrnehmbarer winziger Virus daher und überwindet alle unsere Grenzen, bringt die Märkte, die „alles regeln“ und die Börsen ins Wanken.

Er lässt Kreuzfahrtschiffe, Flieger, ganze Wirtschaftsbereiche stillstehen und die Menschen zu der Erkenntnis kommen, dass wir alle die gleiche Körperchemie haben. Vielleicht schaffen wir es, diesen Schock als Chance zu begreifen, die Waffen endlich, wenn schon nicht zu Pflugscharen, dann zu anderen nützlichen Dingen umzurüsten. Wird es nicht Zeit, die vielen Wunden zu verbinden, heilen zu lassen? War da nicht ein Stückchen blauer Himmel über dem versmogten China? Atmet die Natur nicht ganz vorsichtig auf? Sitzen da etwa wieder Familien zusammen und unterhalten sich? Auch das steht schon beim Propheten Maleachi 3,24: “… das Herz der Eltern wird sich den Kindern und das Herz der Kinder den Eltern wieder zuwenden…“. Vielleicht ist der Traum von einer besseren Welt, einer „Olam haba“, ja doch kein Traum.