Wuppertal Ölberg 70 Jahre Mieterin im gleichen Haus: „Ich will hier nie weg“

Wuppertal · Ruth N. lebt noch mit 90 Jahren allein am Ölberg. Als sie damals einzog, zahlte sie eine Netto-Miete von 19,20 Mark.

Ruth N. fühlt sich in ihrer Wohnung am Ölberg pudelwohl, sagt: „Ich will hier nie weg“.

Foto: Fischer, Andreas

Ruth N. lebt in einer Zeitkapsel. Die 90-Jährige sitzt die meiste Zeit des Tages in einem Wohnzimmer, das irgendwo in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts stehengeblieben ist. Davon erzählen der Röhrenfernseher und die Hifi-Anlage mit Kassettendeck. An der Wand hinter der Couch hängen zwei verblasste Fotos aus einem Österreich-Urlaub. „Die Holzvertäfelung war schon drin, als ich damals mit meinem Mann eingezogen bin“, erzählt die Seniorin. Das war am 1. September 1958. Vorher lebte die Rentnerin bereits im selben Haus, dem sie nun fast 70 Jahre treu geblieben ist. Und Ruth N. sieht sich nirgendwo anders als in diesem charmanten Mehrfamilienhaus im dritten Stock: „Ich will hier auch nie weg.“

Die 57 Quadratmeter große Welt der Ruth N. hat Ende der 1950er Jahre einmal eine Monatsmiete von 19,20 D-Mark netto gekostet - brutto 20,03 Mark. Es war eine völlig andere Zeit, als die Neu-Wuppertalerin mit ihrem Mann am Ölberg Fuß fasste. Das Paar kam in einem Arbeiterviertel an, erlebte dessen Wandel zum sozialen Brennpunkt und schließlich zum angesagten Wohnviertel.

Die gebürtige Norddeutsche kam nach Wuppertal, weil es damals auf dem platten Land keine Arbeit gab. „Man hat mir auf dem Amt gesagt, in Wuppertal hätte man Arbeit für mich“, sagte sie. „Da hat mein Vater erst einmal im Atlas nachgeschlagen, wo Wuppertal denn überhaupt liegt.“ Und als dann klar war, dass diese Stadt ein ganz neuer Lebensabschnitt fernab der Heimat werden würde, da habe es zu Hause Tränen gegeben.

Die Dusche in der Küche und
die Toilette im Treppenhaus

Doch einige Jahre später entpuppte sich Wuppertal als Glücksgriff. Beim Tanztee traf Ruth N., die in Barmen als Haushälterin arbeitete, ihren späteren Mann Rolf und 1958 zogen sie schließlich gemeinsam in die erste gemeinsame Wohnung am Ölberg. Ein zeitgemäßer Zuschnitt hieß damals: drei Zimmer, Dusche in der Küche und die Toilette eine halbe Etage tiefer im Treppenhaus.

Was sollte sich eine 28-Jährige Gedanken über Barrierefreiheit machen? Allein das Wort gab es damals noch gar nicht. Heute ist die Wohnung für Ruth N. eigentlich unpraktisch. Natürlich verfügt das Gründerzeit-Haus über keinen Aufzug. Ruth N. sagt: „Ich habe seit Jahren meine Wohnung nicht mehr verlassen.“ Der wache Blick der 90-Jährigen weicht einem Anflug von Wehmut. Die Zahnräder ihrer Standuhr klacken leise.

Doch obwohl Ruth N. keine Kinder und nach dem Tod ihres Mannes vor fünf Jahren keine Angehörigen mehr in Wuppertal hat, ist die Seniorin selten einsam. Das hat sie einzig und allein dem tollen Zusammenhalt mit ihren Nachbarn zu verdanken. Die Wuppertalerin sagt: „Dieses Haus ist einmalig.“

Als die Seniorin nach einem Schlaganfall in der Wohnung stürzte, war ihr Nachbar sofort zur Stelle. „Der hat mich jeden Tag im Krankenhaus besucht. Das fand ich ganz toll“, sagt Ruth N. An ihrem Krankenbett war es selten leer. Der Vermieter Klaus Dieter Voss sah ebenso nach dem Rechten wie die Studenten-WG, die in der vierten Etage wohnt. „Die sind ganz nett. Manchmal kommen die sogar runter und fragen mich, ob alles in Ordnung ist, wenn sie mal länger nichts von mir gehört haben.“

Die Geschichte des Hauses ist für Ruth N. die Geschichte ihrer Bewohner. „Unten hat einmal ein Japaner gewohnt, der ruft mich heute noch aus der Heimat an“, berichtet sie. Und die Tochter der jungen Frau in der untersten Etage gehe jetzt schon in die Schule. „Das Mädchen besucht mich jeden Tag.“ Die Seniorin strahlt: „Oma sagt sie zu mir.“

In ein Pflegeheim will Ruth N. auf keinen Fall. Dafür fühlt sie sich noch zu fit: „Das Gejammer dort will ich nicht.“