Uni-Oberrätin erklärt So funktionierte der Grenzvertrag der deutschen Ost- und russischen Westgrenzen vor 100 Jahren

Wuppertal · Die Akademische Oberrätin Dr. Sabine Mangold-Will von der Bergischen Universität über eine vertraglich geregelte perspektivische Revision der deutschen Ost- und der russischen Westgrenzen, die am 16. April 1922 unterzeichnet wurde.

Die Akademische Oberrätin Dr. Sabine Mangold-Will.

Foto: Uni/Uni Service Transfer

Am Ostersonntag, dem 16. April 1922, wurde der Vertrag von Rapallo unterzeichnet. Worum ging es dabei?

Mangold-Will: Es handelt sich um einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen Deutschland und Russland, der am Rande der Konferenz von Genua, einer internationalen Finanz- und Wirtschaftskonferenz zur Regelung der deutschen Reparationen, unterzeichnet wurde. Inhalt des Vertrages war entsprechend der wechselseitige Verzicht auf Reparationen und Entschädigungszahlungen, wie die Organisation künftiger wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Zudem wurde die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen zwei, nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen Staaten vereinbart: dem zur Republik gewordenen Deutschen Reich und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik.

Warum war dieser Vertrag für Russland und das Deutsche Reich so wichtig?

Mangold-Will: Der Vertrag entwickelte in der öffentlichen Rechtfertigung für beide Seiten eine ganz grundsätzliche Funktion: Zwei von den westlichen Siegermächten international geächtete Staaten – nämlich die Verlierermacht des Ersten Weltkriegs und die Bolschewiki – schlossen zum Schrecken der Westmächte miteinander einen Vertrag und widersetzten sich damit den politischen Interessen der Alliierten. Sie arbeiteten taktisch mit einem Alleingang, der ihren Handlungsspielraum erweitern sollte. Praktisch, das zeigen Forschungen, die erst nach der Öffnung russischer Archive nach 1990 entstanden sind, ging es vor allem um die Flankierung bereits länger anhaltender Gespräche, die auf eine militärpolitische und rüstungswirtschaftliche deutsch-russische Zusammenarbeit abzielten. Für Deutschland ging es dabei um die Revision des Versailler Vertrages, für Russland um finanzielle Mittel und technische Unterstützung zum Wiederaufbau beziehungsweise Ausbau seiner militärischen Kapazität. Der gemeinsame Nenner war eine perspektivische Revision der deutschen Ost- und der russischen Westgrenzen.

Der Vertrag enthielt auch militärische Aspekte, mit denen die Deutschen den Versailler Vertrag umgehen konnten. Welche waren das zum Beispiel?

Mangold-Will: Der Vertrag enthielt entgegen zeitgenössischer Gerüchte kein geheimes Zusatzprotokoll über eine militärische Zusammenarbeit. Darüber wurde – wie gesagt – vielmehr im Vor- und Umfeld verhandelt. Die im Vertrag vereinbarte wirtschaftliche Zusammenarbeit betraf in der Konsequenz daher vor allem Aktivitäten, mit denen de facto die militärischen Beschränkungen des Versailler Vertrages umgangen wurden. Ein bekanntes Beispiel ist der Bau einer Flugzeugfabrik durch die Junkers-Werke und die Einrichtung einer Flugschule in Russland, wo mit deutscher Hilfe nicht nur Flugzeuge gebaut, sondern auch deutsche und russische Piloten für einen militärischen Einsatz ausgebildet wurden. Praktisch fand damit der Aufbau einer deutschen Luftstreitmacht, die im Versailler Vertrag ausdrücklich untersagt war, zwischen 1925 und 1933 in Russland statt.

Die Westmächte und auch Vertreter des Deutschen Reiches standen der Vertragsunterzeichnung kritisch gegenüber. Warum?

Mangold-Will: Das Interesse der Westmächte liegt auf der Hand: Sie fürchteten Deutschland als aktiven politischen Akteur und kritisierten daher den diplomatischen „Alleingang“, zumal ihnen die geheimen Hintergründe des Vertrags nicht unbekannt waren. Die britische Angst vor einer Erstarkung der Bolschwiken und einer antibritischen Allianz Russland-Deutschland, womöglich unter Einschluss der Türkei, lässt sich in den Akten des Foreign Office finden. In Deutschland machte sich die Kritik am Vertrag von Rapallo im Wesentlichen an zwei Aspekten fest: Der Vertrag mit Sowjetrussland galt als Menetekel, aber weniger auf den ideologischen Sieg des Kommunismus in Deutschland; kritisiert wurde vielmehr die in Rapallo liegende Provokation der westlichen Siegermächte, mit denen man über Verhandlungen zu einer Milderung des Versailler Vertrages zu kommen hoffte. Bezeichnenderweise wurde Rapallo gerade von den Gegnern der Weimarer Republik wegen des militärpolitischen Hintergrunds eher begrüßt.

Kann man den Vertrag von Rapallo auch als ersten Schritt aus der Isolation des Ersten Weltkrieges deuten?

Mangold-Will: Man kann den Vertrag als den Versuch deuten, die internationale Marginalisierung nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg zu überwinden, zumal wenn sich die Idee realisiert hätte, die Türkei in die militärische Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee einzubinden. Dann hätte daraus ein eigenes, antiwestliches Bündnissystem entstehen können. De facto allerdings hat der Vertrag mit Sowjetrussland das Misstrauen der weltpolitisch führenden Westmächte, vor allem Großbritanniens, geschürt und die internationale Anerkennung und Einbindung der Weimarer Republik zumindest gehemmt. Die akute Folge für Deutschland war die ausbleibende Regelung der Reparationsfrage auf der Konferenz von Genua und indirekt die Ruhrbesetzung durch Frankreich im Januar 1923.

Immer wenn sich Deutschland zu sehr auf Russland zubewegt, also Adenauers Reise 1955 nach Moskau, Brandts Ostpolitik nach 1970 oder Schröders angebliche Berlin-Paris-Moskau-Achse, spricht man vom Rapallo-Komplex. Ist das eine permanente europäische Angst vor einer Wiederholung der Ereignisse von 1922?

Mangold-Will: Nein, das ist keine wirkliche Angst vor einer einseitigen Bindung Deutschlands an Russland, denn das war Rapallo nicht, sondern die politische Instrumentalisierung einer behaupteten permanenten Angst. Den Rapallo-Komplex haben ja immer diejenigen, die in einer bestimmten historischen Situation die Einbindung Russlands ins Internationale System ablehnen, und diese politischen Akteure arbeiten deswegen mit der imaginierten Angst, Deutschland könnte sich selbst schädigen, indem es die internationale Ächtung und Isolierung Russlands – sei es Sowjetrusslands oder „Putin“-Russlands – durchbricht. Die einzigen, die mit berechtigter Angst auf Rapallo verweisen könnten, tun es in der Regel nicht, weil die Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt die Erinnerung an Rapallo überlagert: Das eigentliche Opfer des deutsch-sowjetrussischen Zusammengehens sollte perspektivisch der neu gegründete Staat Polen sein, dessen Auflösung im beiderseitigen Interesse lag.