Der beißende Geruch von Freiheit Wuppertaler Familie zieht im Wohnwagen durch Europa - ein Reisebericht
Mycha Schekalla hat keinen festen Wohnsitz mehr und reist mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern im Wohnwagen durch Europa. Ein Gefühl von Freiheit, sagt er.
Wuppertal. Die Dame an der Rezeption des Campingplatzes ist nicht sehr bemüht, als ich versuche zu erklären, dass wir noch ein paar Tage länger bleiben möchten. Ich spreche miserables Spanisch, sie nur miserables Englisch. Es gibt keinen Grund, sich zu beeilen, denn es wartet keine lange Schlange hinter mir, wie noch vor zwei Monaten. Obwohl der Campingplatz brechend voll ist — Dauercamper. Die Strandpromenade — die Stellplätze mit dem besten Ausblick auf den Ozean — säumt eine lange Reihe an Wohnwagen. Vorzelte sind geschlossen. Niemand bewohnt die fein hergerichteten Kleingärten. Eine Geisterstadt. Die Saison ist vorbei.
Solange ein Strand vorhanden ist, merkt man, dass sich die Anwohner auf Touristen eingestellt haben. Kilometer an Plattenbauten stehen verlassen an Küstenabschnitten. Rollläden warten nur darauf, hochgezogen zu werden. Es kommt nur Keiner. Ich habe den kompletten Bereich der „Caballeros“ des Waschhauses für mich allein. Es ist herrlich. Wenn ich das Geschirr spülen gehe, mache ich mir gar nicht erst die Mühe meine weißen Tennissocken auszuziehen, sondern bilde mir ein, in meinen Birkenstock doch tatsächlich lässig auszusehen. Keine wachsamen Nachbarblicke die ich ertragen müsste und keiner, der sich darüber echauffieren könnte, wie ich aussehe. Außer die Frau.
In der letzten Woche haben wir es geschafft, jeden Tag an einem anderen Strand zu stehen. Das Wetter war mäßig gut, denn seit September hängen Wolken über dem Norden von Spanien. Der Rest vom Land hat noch nicht mitbekommen, dass wir Herbst haben. Oder zumindest das, was mir als „Herbst“ aus Wuppertal im Kopf hängen geblieben ist. Erst wenn man zum Abgammeln im Wohnmobil gezwungen ist, wird man sich bewusst, welche Spielsachen man vergessen hat mitzunehmen. Der Geburtstag eines der Kinder verschafft in diesem Fall einen guten Grund, das Wohnmobilarsenal an Kinderbeschäftigung aufzustocken. Im Regen fanden wir es schlauer, die kostengünstige Alternative eines Parkplatzes direkt am Meer zu wählen. Aber nach einer Woche auf der Straße und dem beißenden Geruch von Freiheit öffnet eine funktionierende Dusche mit genug Wasserdruck die güldenen Tore zum Himmel. Wir haben den einzigen, noch freien Stellplatz direkt am Meer. Es hängt eine dicke Nebelwolke darüber, und ich kann den Horizont nicht mehr ausmachen. Das angrenzende Naturschutzgebiet auf der Insel Ons wabert latent auf dem dunklen, azurblauen Atlantik. Möwen schweben aus dem Dunst, ziehen an der Butze vorbei und verschwindet lautlos im Nebel.
Ein anderer Tag. Die Uhr am Laptop deutet mir schon wieder, dass es viel zu spät geworden ist. 2 Uhr nachts an der spanischen Atlantikküste. Ich raube mir den letzten Schlaf, doch möchte unbedingt noch irgendetwas zustande bringen; ein Comic, eine Illustration oder einen Text. Selbst wenn es nur das Lesen eines Buches ist, Hauptsache, mein Kopf kann sich noch etwas ablenken von meinem derzeitigen Tagesablauf.
Der endet normalerweise gegen 22 Uhr, wenn wir es geschafft haben, die Kinder zum Schlafen gehen zu überreden. Für üblich wird man deswegen netterweise erst um 10 Uhr geweckt. Die Ruhezeit hat sich also nur etwas nach hinten verlagert und ist ein Symptom des neuen Lebensstils, in dessen Strömung wir gezogen werden. Man kann fast zusehen, wie wir uns als Familie verändern und das Wohnmobil als unser vollwertiges neues Zuhause akzeptieren lernen. Nichtsdestotrotz gibt es immer noch Stressspitzen und manchmal muss ich mich zwingen, ein drittes Mal durchzuatmen, weil die Kinder es auf immer kreativere Arten schaffen, mich daran zu erinnern, dass ich mir einen Bildungsauftrag auferlegt habe. Ob es wohl zu solchen Diskussionen im vorherigen Leben — vor der großen Reise — gekommen wäre? Würden sich die Kinder genauso entwickeln und neues Selbstvertrauen entdecken? Hätten wir uns als Familie am Küchentisch auch einer derartigen Spannung ausgesetzt? Ich bin mir ziemlich sicher, dass uns der alte Trott früher oder später in die Knie gezwungen hätte. Und trotzdem ist es eine quälende Ungewissheit, ob wir uns aus Versehen bewusst für einen schwierigeren Weg, das Leben zu bestreiten, entschieden haben.
Je länger wir unterwegs sind, desto unkomplizierter wird alles. Üblich gewordene Handgriffe, wie das Leeren der Toilette oder das Aufdrehen des Gashahns nach einer Fahrt, machen aus mir langsam einen routinierten Butze-Kapitän. Und trotzdem gibt es Situationen, die uns den letzten Schweiß kosten — zum Beispiel eine abenteuerliche Route über die Pyrenäen, die uns nervlich aber auch abgehärtet hat. Entspannter waren da schon die vielen kostenlosen Stellplätze, die uns in Spanien landeinwärts näher an den Atlantik gebracht haben. An dessen Küste bewegen wir uns Stück für Stück nach Westen fort, um in ein paar Wochen in Portugal anzukommen.
Adiós y hasta la próxima euer Mycha.