Detlef Vonde zur Geschichte einer Debatte Der kleine Willy Otto und die Impfgegner

Wuppertal · Detlef Vonde über die Geschichte einer Debatte.

Autor Detlef Vonde ist Historiker, ehemaliger Leiter der Politischen Runde der Bergischen VHS und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fernuni Hagen.

Foto: hammer/Anette Hammer/Freistil Fotografi

Am 6. Juni 1909 starb in Elberfeld der kleine Willy Otto im Alter von gerade einmal 18 Monaten an den Folgen einer Lungenentzündung in Verbindung mit Hirnhautentzündung. Angesichts der hohen Kindersterblichkeit auch in Elberfeld und Barmen im 19. und frühen 20. Jahrhunderts wäre dieser „Fall“ keine berichtenswerte Besonderheit, wäre der kleine Willy nicht wenige Wochen zuvor gegen Pocken geimpft worden. Das Schicksal des Kleinen wurde umgehend von den Impfgegnern der Zeit aufgegriffen und ein zutiefst Mitleid erregendes Foto des Verstorbenen in den einschlägigen Medien veröffentlicht. Wie selbstverständlich stellten die damals gut organisierten Impfgegner einen Zusammenhang zwischen der Pockenimpfung und den angeblich tödlichen Nebenwirkungen her. Das Schicksal des kleinen Elberfelders gewann also traurige Berühmtheit durch die folgende, emotional höchst aufgeladene Debatte um die Risiken des Impfens. Eine unfreiwillige Geschichte post mortem.

Pandemisch auftretende Infektionskrankheiten wie Cholera, Fleckfieber, Pocken oder Lepra waren bis ins späte 19. Jahrhundert weitgehend unerforscht und deshalb besonders gefürchtet. Es herrschte weder Klarheit über Erreger oder Erscheinungsformen, noch gab es wirksame Behandlungsmöglichkeiten. Die Menschen waren den todbringenden Seuchen hilflos ausgeliefert. Die Cholera etwa forderte auch im Wuppertal des 19. Jahrhunderts hunderte von Opfern. Im Kampf gegen die Pocken wurde 1874 in Deutschland per Gesetz das erste große Impfprogramm verpflichtend eingeführt. Impfbefürworter und Impfgegner führten dabei eine knallharte Debatte, die sich letztlich immer um die Kontroverse zwischen Allgemeinwohl, individueller Unversehrtheit und persönlicher Freiheit drehte. Viele sehen in diesem Gesetz geradezu die Blaupause einer Medikalisierung der gesamten Bevölkerung. Das Impfgesetz sah vor, dass jedes Kind noch vor Ablauf des auf sein Geburtsjahr folgenden Kalenderjahres verpflichtend mit Schutzpocken geimpft werden musste. Im 12. Lebensjahr war eine Wiederholung Pflicht, von der es nur wenige Gründe zur Befreiung gab. Wenn sich Eltern trotz Aufforderung verweigerten, wurde eine geringe Geld- oder gar kurze Haftstrafe angeordnet. Das löste eine breite Protestwelle aus.

Die Debatte um das Impfen verlief von Beginn an emotional extrem aufgeladen bis ausgesprochen aggressiv. Die in zahlreichen Vereinen organisierte Impfgegnerbewegung brachte es 1914 auf die stolze Zahl von 300.000 Menschen. Ihr publizistisches Hauptorgan, „der Impfgegner“, wurde von einem Arzt und Glasmaler aus Linnich herausgegeben und sprach in erster Linie Vegetarier und die Anhänger neuer Bewegungen der Lebensreform und Naturheilkunde an. Deren Aktivitäten propagierten die Aufhebung des Gesetzes insgesamt, mindestens jedoch des Impfzwanges. Impfschäden mit Todesfällen schürten tatsächliche Besorgnis in der Bevölkerung. Die Gegner beschrieben dabei nicht selten wahre Horrorszenarien und drastische Fälle, die nach der Impfung aufgetreten seien. Dies reichte von harmlosen Nebenwirkungen wie Kopfweh bis hin zu Syphilis, Veitstanz oder dämonischer Besessenheit. Falschmeldungen und Gerüchte taten ein Übriges. Medizinhistorische Schätzungen gehen heute davon aus, dass etwa jede dreißigtausendste Pockenimpfung tödliche Nebenwirkungen hervorrief: Ein Umstand, den man in Relation zu den Gefahren der Pocken insgesamt aber in Kauf nahm. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Zahl der Impfgegner dann stark gesunken. Angaben des damaligen „Deutschen Reichsverbandes zur Bekämpfung der Impfung“ folgend schrumpfte die Mitgliederzahl bis 1924 auf 60 000. Fünf Jahre zuvor war bereits letzte Ausgabe des „Impfgegners“ erschienen.

Impfpflicht ist in der Geschichte der Programme allerdings die Ausnahme. Nur im Falle der Pockenimpfung galt sie bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Alle anderen Programme davor und danach wie Diphterie, Polio oder Tuberkulose setzten auf das Prinzip der Freiwilligkeit. Seit den späten 1920er Jahren zog sich der Staat aus den Impfprogrammen weitgehend zurück, bis er seit den 60er Jahren nur noch eine kontrollierende Funktion einnahm. Das hatte vor allem mit den neuen Pharmaunternehmen zu tun, die jetzt mit eigenen Impfprogrammen Erfolgs- und Profitgeschichte schrieben. Doch zurück zum Anfang der Erzählung. Siebzig Jahre nach dem viel zu frühen Tod des kleinen Willy Otto aus Elberfeld erklärte die WHO die Welt endgültig für pockenfrei.