Kolumne Reformhaus „Jungbrunnen“ und die „Kohlrabijünger“

Karl August Heynen eröffnete 1900 in Barmen sein damals innovatives Geschäft eröffnete, in dem es alles gab, was man für Körper und Seele gesund hielt.

Lebensreformer Karl Wilhelm Diefenbach.

Foto: gemeinfrei

„Reformhaus Jungbrunnen“. Ob er es sich wohl hätte träumen lassen, dass aus seiner Wortkreation einmal ein eingetragenes Markenzeichen für den Handel mit naturbelassenen Lebensmitteln werden sollte? Karl August Heynen hieß der Mann, der exakt im Jahr 1900 in Barmen sein damals innovatives Geschäft eröffnete, dem er schon in kürzester Zeit weitere lukrative Filialen in Kassel, Mönchengladbach, Magdeburg, Würzburg, Nürnberg, Freiburg und sogar in Straßburg folgen lassen sollte. Die verkauften – wie das Barmer Kerngeschäft – alles, was man damals für Körper und Seele gesund hielt: pflanzliche Fette, Traubensäfte, Trockenfrüchte, Vollkornbrot und Öle für die Körperpflege. Reformhäuser wurden in den folgenden Jahrzehnten zum Markenzeichen und schrieben Erfolgsgeschichte. 1925 war ihre Zahl bereits auf rund 200 Geschäfte gestiegen, die sich schon bald in der „neuform“ eine genossenschaftliche Organisationsstruktur gaben. Der Gründungsboom hielt auch während der NS-Zeit an, so dass es 1939 über 2 000 Reformhäuser in Deutschland gab.

Heynens Geschäftsidee aber hatte einen Entstehungszusammenhang in der damals verbreiteten „Lebensreformbewegung“. Die Idee einer Kommerzialisierung gesunder Lebenshaltung entsprang dieser breiten ideologischen Gegenbewegung zum Prozess von Industrialisierung, Urbanisierung und Modernisierungseuphorie mit den bekannten sozialen, ökologischen und psychischen Folgen. In der Lebensreformbewegung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts trafen sich Naturheilbewegte, Vegetarier, Antialkoholiker, Naturisten, Nudisten, „Wandervögel“, Kleidungsreformer, bürgerliche „Aussteiger“ aller Couleur, aber auch Esoteriker, Völkische und Antisemiten. Das Spektrum ihrer Anhängerschaft war ebenso vielfältig wie widersprüchlich. Hier versammelten sich Menschen, die der echten oder eingebildeten spirituellen Leere und dem Materialismus einer Zeit mit ihren krassen Gegensätzen von Modernisierung und sozialer Verwerfung etwas Sinnerfülltes entgegensetzen wollten. Die sinnstiftenden Defizite einer Auflösung der alten ständischen Ordnung in der Klassen- und Massengesellschaft anonymer Großstädte (um 1900 lebte ein Viertel der Deutschen in der Stadt) sollten durch individuelle Reform- und Suchbewegungen kompensiert werden.

Zu ihren Protagonisten, die nicht selten als „Kohlrabijünger“ verspottet wurden, zählten auch bürgerliche Intellektuelle wie der Maler Karl Wilhelm Diefenbach, Hermann Hesse oder Franz Kafka. Im gleichen Jahr, als Heynen in Barmen sein Reformhaus „erfand“, gründete eine illustre Gruppe aus Anarchisten, Vegetariern, Pazifisten, Nudisten und Zivilisationsflüchtenden auf dem Monte Veritá bei Ascona im Schweizerischen Kanton Tessin eine Aussteigerkommune als Gegenwelt zum wilhelminischen Obrigkeitsstaat. Die Gruppe versammelte sich hinter dem Wahlspruch „Zurück zur Natur“ und irritierte das interessierte Publikum durch lange Bärte, bewusste Verzichts- und demonstrative Freikörperkultur. 1926 wurde der Monte Veritá dann von dem Elberfelder Bankier, Kunstmäzen und späteren NSDAP-Mitglied Eduard von der Heydt gekauft, der dort ein Hotel errichten ließ.

„Die Glückseligkeit unseres Daseins kann nur in der Beziehung zur Natur bestehen“, behauptete 1912 der Schriftsteller Andreas von Wagner in der Zeitschrift „Die Schönheit“. Orte dieser Beziehungsstiftung sollten danach auch die neuen Reformhäuser sein, mit ihren Angeboten von einheimischem und unbehandeltem Obst und Gemüse. Die Philosophie der Bewegung insgesamt setzte dabei auf einen Prozess der Selbstoptimierung: Erst das Ich und dann vielleicht die Welt zu verbessern. Das war anschlussfähig für alle möglichen politischen Strömungen. Sozialdemokratische und andere linke Gruppierungen verfolgten solidarisch gesellschaftsverändernde Projekte, während vor allem antisemitische und germanophile Protagonisten völkische Siedlungsprojekte entwickelten, wie das „Heimland“ des antisemitischen Journalisten Theodor Fritsch oder die Artamanenbewegung von Bruno Tanzmann, die bis 1929 rund 300 Bauerngüter erwarb und dort Formen des „einfachen Lebens in freiwilliger Armut“ praktizierte. Das „Zurück zur Natur“-Motiv ließ sich leicht in ein völkisches „Zurück zur deutschen Natur“ verengen und vom NS im Handumdrehen gleichschalten. Insgesamt also gegensätzliche Varianten von Großstadt- und Zivilisationskritik und Ausdruck eines neuen Bedürfnisses nach alternativen Lebensformen.

Das Stammhaus der Reformhäuser in Barmen selbst aber hatte keine Zukunft: Es wurde 1943 bei einem Bombenangriff zerstört. Karl August Heynen und seine Frau kamen dabei ums Leben. Ganz anders die Idee der Reformhäuser, die noch heute als erfolgreiche Multiplikatoren gesunder Lebensstile gelten.