Was glauben Sie denn? Wuppertaler Kirchenkolumne: Von Schafen und Wölfen
Wuppertal · Religion prägt Charakter, Religion prägt Kultur. Immer noch. Auch wer glaubt, nichts zu glauben, ist von dieser Haltung geprägt.
Wie man glaubt oder nicht glaubt, prägt die Sicht auf die Welt, auf die Mitmenschen, das (eigene) Schicksal und das Leben. Was glauben Sie denn?
Es gibt keine gesellschaftlich-kulturellen Monokulturen. Wer die Gesellschaft verstehen will, muss sich auch damit auseinandersetzen, was und wie Menschen glauben und nicht glauben. Das gilt umso mehr, wenn man den eigenen soziokulturellen Horizont verlässt und in Kontakt mit anderen kulturell geprägten Gesellschaften tritt. Wer sich dieser Aufgabe verweigert, weil ja alle irgendwie doch denselben Gott haben und alle Menschen Geschwister sind, wird im besten Fall kommunikative Missverständnisse produzieren; im schlechteren Fall wird der Mangel an religiöser Kenntnis der eigenen religiösen Kultur wie der des Gegenübers womöglich zu schweren Konflikten führen.
Nicht ohne Grund weist der große Kommunikator des frühen Christentums darauf hin, dass er sich darum müht, die zu verstehen, denen er gegenübersteht: Den Juden sei er ein Jude geworden, den Gesetzlosen ein Gesetzloser, den Schwachen ein Schwacher – immer mit dem Ziel, die anderen für seine Botschaft zu gewinnen (vgl. 1 Kor 9, 20-22).
Wie unterschiedlich religiös geprägte Sprachcodes sein können, kann man an einem ebenso einfachen wie aktuellen Beispiel sehen. Für Christen ist das Symboltier das Lamm. Das Lamm ist wehrlos. Es ist gar nicht fähig zur Gewalt. Gerade weil das Lamm nicht auf Gewalt setzen kann, muss es andere Tugenden ausprägen, um in der Welt bestehen zu können. Nicht ohne Grund gibt Jesus seinen Jüngern einen wichtigen Hinweis mit auf den Weg: „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; seid daher klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben!“ (Mt 10,16)
Der Wolf hingegen ist alles andere als arglos. Er ist listig und misstrauisch. Der islamische Gelehrte Ibn Kathîr erinnert daran, dass der Wolf während des Schlafes ein Auge geöffnet habe, um sich angriffsbereit vor Unheil schützen zu können. Der islamische Mystiker Rûmî sieht deshalb im wachschlafenden Wolf eine Metapher größter Gottesnähe.
Hier das Schaf, dort der Wolf. Unterschiedlicher könnten Tiermetaphern im Christentum beziehungsweise im Islam nicht sein – inklusive der daraus folgenden Assoziationen. Die nämlich zeigen sich mitunter auch in Gesten. Die christlichen Pfadfinder etwa kennen den Gruß der erhobenen Hand, bei der der Daumen über den Zeigefinger gelegt wird: Der Große beschützt den Kleinen. Die drei erhobenen anderen Finger stehen für die Verpflichtung gegenüber Gott, den Anderen und sich selbst.
Die Anhänger der türkisch-islamistischen Grauen Wölfe hingegen kennen die Geste des sogenannten Wolfsgrußes: Der Daumen wird auf den Mittel- und Ringfinger gepresst, während Zeigefinger und der kleine Finger nach oben gestreckt werden. In Kindergärten ist diese Geste auch als „Schweigefuchs“ bekannt und bedeutet „Ohren auf und Mund zu“. Für Anhänger der Grauen Wölfe aber bedeutet der ausgestreckte Zeigefinger ein Bekenntnis zum Islam (Tauhid), der kleine Finger symbolisiert die Turkvölker, die auf das urtürkische Volk der Göktürken zurückgehen, das durch einen mythologischen blaugrauen Wolf aus dem Ergenekontal herausgeführt wurde, um der Welt den Stempel aufzudrücken (symbolisiert in Daumen, Mittel- und Ringfinger).
Das Zeichen ist alles andere als harmlos. Es wurde 1992 als politisches Zeichen der Grauen Wölfe eingeführt und massenhaft am 2. Juli 1993 beim Sivas-Massaker gezeigt, als 3000 türkische Nationalisten ein Hotel umzingelten, in dem ein alevitisches Festival stattfand. 35 Menschen fanden in dem Hotel den Tod. Am 2. Juli 2024, exakt 31 Jahre später, zeigt der zweifache türkische Torschütze Merih Demiral weltweit sichtbar den Wolfsgruß.
Nicht nur für Aleviten ist die Geste alles andere als harmlos. Wer die Zeichen lesen kann, blickt tiefer. Religion ist nie bloße Privatangelegenheit. Klugheit ist eine Tugend, die verloren zu gehen droht.