Wuppertal will‘s wissen Wuppertaler Sozialpsychologin untersucht die Bewegung von Menschen in großen Ansammlungen
Wuppertal · Anna Sieben von der Bergischen Uni setzt sich wissenschaftlich mit Menschenmassen und deren Verhalten auseinander.
Anna Sieben blickt auf ihren Bildschirm. Ein Video läuft ab. Darauf zu sehen ist eine Menschenmenge. Sie läuft auf ein Eingangstor zu, eine Warteschlange bildet sich. Kurz darauf löst sie sich auf und eine Menschentraube drängt sich stattdessen zum Eingang. Diese Fans wollen ihren absoluten Lieblingskünstler auf der Bühne sehen. Zumindest hat man ihnen das gesagt, berichtet Anna Sieben, Professorin für Sozialpsychologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Das Video zeigt ein Experiment, das sie gemeinsam mit Kollegen am Forschungszentrum Jülich und der Uni Wuppertal durchgeführt hat. Denn sie möchte eines: Menschenmengen besser verstehen.
Menschenmengen lassen sich physikalisch beschreiben – als Menschen oder Partikel, die mit Laufwegen zu beschreiben sind –, mathematisch lasse sich berechnen, wie dicht eine Menschenmenge ist, wie schnell sich die Menschen bewegen und wie schnell der Durchfluss an einer Engstelle ist. „Es gibt viele Ansätze, die versuchen, das in einem Modell zu beschreiben. Sie können Grundlage für Computersimulationen sein“, erklärt Anna Sieben.
Ingenieure könnten daraus beispielsweise ableiten, wie breit ein Eingang gebaut sein muss. Experten können abschätzen, wo Staus entstehen. „Bei Großveranstaltungen wie auf dem Wuppertaler Ölberg weiß man nicht, wo es voll wird und was passiert, wenn es anfängt zu regnen und die Menschen alle zeitgleich weg wollen“, sagt Sieben. Mit Simulationen lasse sich das womöglich vorhersagen. Doch gibt es eine Unbekannte: Die Psychologie des Menschen. Und genau hier setzt Anna Sieben an.
Wie bewegen sich Menschen in Menschenmengen?, lautet ihre große Frage. „Wir sind eben keine Partikel und bewegen uns nicht wie Tiere. Es gibt schon Simulationen zu Schwarmverhalten, der Mensch ist aber kein Herden- oder Schwarmtier“, sagt sie. Menschen würden sich meist an ein Skript halten, das ihnen sagt, wie sie sich in einer Situation zu verhalten haben. Anna Sieben nennt als Beispiel den Einlass zu einem Konzert. Dort bilden sich Warteschlangen, die mal breiter, mal schmaler, mal enger und mal loser sind. „Wenn die ersten anfangen, sich zu fünft nebeneinander zu stellen, machen die anderen das auch“, sagt Sieben. Stehen sie nur zu zweit in der Schlange, wird sie schmaler, aber länger.
Anna Sieben und ihr Team haben sich dieses Phänomen bei der Mitsubishi Electric Halle in Düsseldorf im Rahmen des Projektes „CroMa“ angesehen. Da ging die Schlange über den Parkplatz bis in die U-Bahn-Station hinein. Etwas, das bei Sicherheitskonzepten bedacht werden muss. Das Skript sah in diesem Fall eine schmale Schlange vor. Es verbietet, den Platz anders zu nutzen oder gar zu überholen. „Das würde sozial sanktioniert werden“, erklärt Sieben.
Für die waschechten Fans geht es um alles
Vorne in der Schlange gelte wiederum ein anderes Skript. Dort stehen die waschechten Fans. Sie sind sehr aufgeregt, sagt Sieben. Für sie geht es um alles. Das führt dazu, dass die Menschen vorne dicht gedrängt stehen. Diese Kombination aus dichtem Gedränge und viel Bewegung innerhalb der Menge werde zum Sicherheitsrisiko, Menschen könnten fallen. „Trotzdem machen die Menschen das, weil sie die Erfahrung suchen, sie wollen die Aufregung, sie wollen die anderen Fans spüren und wenden deshalb ein anderes Skript an“, so Sieben. Zusätzlich entstehe ein Gemeinschaftsgefühl. Etwas, das sich nicht mit Physik, sondern nur mit Psychologie erklären lasse. Sieben: „Die Menschen koordinieren sich mithilfe ihres kulturellen Wissens.“
Ein solches Skript gibt es auch an Bahnhöfen. Es gibt Regeln, wie man wartet: „Man stellt sich nicht ganz nah an den anderen, sondern in die Mitte der Wartenden. Man versucht auch, die Leute nicht anzugucken“, erklärt die Psychologin. Beim Einlass in den Zug gilt: Die Menschen zuerst aussteigen lassen. Doch das funktioniert nicht immer. „Das Skript ist dynamisch und kann leicht auseinanderfallen. Es ist nicht erlaubt, sich vorzudrängeln, passiert aber doch regelmäßig. Dann sind die Leute bereit, das Skript zu wechseln. Der, der vorher noch gemeckert hat, dass andere die Leute nicht aussteigen lassen, ändert seine Meinung. Dann kommt der Gerechtigkeitssinn ins Spiel: Wenn sich alle vordrängeln, will ich nicht der sein, der nicht mehr in den Zug kommt.“
Wenn einer etwas vormacht, machen es die anderen nach? „Das stimmt nicht“, sagt Anna Sieben. Es gebe immer Menschen, die nicht mitmachen – ihren Papiermüll nicht auch neben den übervollen Papiercontainer stellen, sondern zum nächsten fahren, die Stadt anrufen oder versuchen, auch die fremde Pappe noch irgendwie hineinzuquetschen. „Wir haben uns in einer Menschenmenge angeguckt, wer drängelt und haben uns die Nachbarn angeschaut, ob sie auch anfangen, zu drängeln. Wir haben festgestellt: Das passiert, aber die Wahrscheinlichkeit steigt nur um 30 Prozent. Die Leute lassen sich anstecken, aber nicht alle. Menschen funktionieren nicht so“, sagt Sieben.
Noch sind viele Fragen zur Dynamik in Menschenmengen ungeklärt. Wann bildet sich eine Schlange und wann entscheiden sich die Menschen, sich doch vorzudrängeln? Wovon hängt das ab? Das muss noch erforscht werden. Klar ist: In einer gefährlichen Situation bricht die Koordination der Menschen untereinander zusammen. Eine Menge von oben zu beobachten sei etwas ganz anders, als Teil der Menge zu sein. „Die Menschen sehen nicht, was passiert, können sich untereinander nicht mehr koordinieren. Denn die, die vorne in Gefahr sind, können das nicht nach hinten kommunizieren. Der Mensch stößt an seine Grenzen“, weiß Sieben.
Ähnliches sei bei der Love Parade 2010 passiert. Anna Sieben hat gemeinsam mit Armin Seyfried hierzu Zeugenaussagen ausgewertet. „Die Zeugen wussten nicht, wohin. Er herrschte große Orientierungslosigkeit“, berichtet sie. Die Menge geriet in Bewegung, als ein scheinbarer Ausweg vom Gelände über eine Steintreppe gefunden wurde. „Es gibt die Idee einer Massenpanik. Was bei der Love Parade passiert ist, hat damit aber gar nichts zu tun. Die Menschen haben sich nicht in dem Sinne panisch verhalten, dass sie andere umgeschubst hätten, um rauszukommen. Das war ein Mangel an Koordinationsmöglichkeiten.“ Es hätte jemand Übergeordnetes gebraucht, zum Beispiel jemanden mit einem Megafon, der die Menge koordiniert, und ein Konzept, wie man die Menschenmenge umleitet.
Anna Sieben will sich mit der Frage von Koordination und nonverbaler Kommunikation beschäftigen, damit, wie sich Menschen in großen Menschenmengen fühlen, und wie die Psychologie in Computermodellen eingebunden werden kann.