Zeugen Jehovas Die befremdliche Sanftmut eines KZ-Insassen
Burscheid/Wermelskirchen · Acht Jahre war Friedrich Brosius in Buchenwald inhaftiert. Aber Hass und Widerstand kamen in der Weltsicht des Zeugen Jehovas nicht vor.
Die Meldung aus dem Wermelskirchener Tageblatt datiert vom 18. Oktober 1935. Unter der Überschrift „Bibelforscher vor Gericht“ heißt es über einen Prozess vor der Düsseldorfer Großen Strafkammer: „Die Angeklagten weigerten sich vor der Verhandlung, den deutschen Gruß zu erwidern, und gab der Angeklagte Friedrich Br. dazu folgende Erklärung ab: ,Wir erwarten unser Heil nur vom Höchsten, wir sind Gott geweihte Männer und Frauen, Zeugen Jehovas, und würden es als eine Untreue gegen Christus empfinden, wenn wir den deutschen Gruß erweisen.’“ Drei Monate Gefängnis lautete schließlich das Urteil für Friedrich Brosius, weil er sich gegen das Verbot der Nationalsozialisten weiter für die Internationalen Bibelforscher betätigt hatte, wie sich die Zeugen Jehovas noch bis 1931 nannten.
Es sollte für den Wermelskirchener nicht der letzte Konflikt mit den Nazis bleiben. In insgesamt 14 Gefängnissen sei ihr Vater gewesen, listet Ingeborg Eichhorn auf. Die 83-Jährige lebt heute noch im Hinterhaus ihres Elternhauses im Norden des Rheinisch-Bergischen Kreises. Draußen auf der Wielstraße ist in den Bürgersteig ein Stolperstein des Künstlers Gunter Demnig eingelassen, der an die acht Jahre erinnert, die Friedrich Brosius schließlich bis zum Kriegsende im Konzentrationslager Buchenwald verbrachte. Er hat es überlebt.
Keine Berichte von Hass oder Verbitterung
Als gebrochener, traumatisierter, verbitterter, vielleicht hassender Mann, könnte man nach dieser Biografie vermuten. Aber die Schilderungen der Nachgeborenen zeichnen ein völlig anderes Bild. „Mein Großvater war trotz dieser schrecklichen Ereignisse total tiefenentspannt“, erinnert sich Jephta Vossieck. Briefe aus dem KZ an die jüngere Tochter, die ihren Vater erst im Alter von neun Jahren erstmals zu Gesicht bekam, fließen über vor Herzlichkeit. „Mein Vater war immer positiv eingestellt“, sagt Vossiecks Tante Ingeborg Eichhorn.
Wer der Verfolgung der Zeugen Jehovas durch die Nazis nachspürt, stößt immer wieder auf eigentümliche, oft befremdlich erscheinende Einstellungen. Eine Radikalität des Bekenntnisses einerseits, die auch vor schlimmsten Konsequenzen bis hin zum Tod nicht zurückschreckte. Und eine fast erschreckende Sanftmut gegenüber den Tätern andererseits. SS-Offiziere ließen sich gerne von Zeugen Jehovas rasieren, weil sie sicher sein konnten, dabei keinerlei Gefahren ausgesetzt zu sein. Friedrich Brosius machte nach dem Krieg bei den obligatorischen Missionsbesuchen an der Haustür auch nicht um diejenigen einen Bogen, die einst an seiner Verhaftung beteiligt waren. Einer von ihnen wurde nach Erzählungen der Tochter gar mehrfach als Maler und Anstreicher im Haus beauftragt.
In einem großen Beitrag hat „Spiegel online“ gerade an die Hinrichtung des ersten Kriegsdienstverweigerers im KZ Sachsenhausen vor 80 Jahren erinnert. Auch August Dickmann war ein Zeuge Jehovas, wie die meisten Männer, die sich dem Militärdienst verweigerten. Sein Bruder Heinrich musste ihn nach der Ermordung in einen Sarg legen und fortschaffen. Nach der zur Abschreckung gedachten Hinrichtung wurden die übrigen mit dem lila Winkel markierten Häftlinge aufgefordert, ihre Abkehr von den Zeugen Jehovas zu unterschreiben. Stattdessen traten zwei Männer vor, die ihre bereits geleistete Unterschrift wieder zurückzogen. Dabei war sie im Unterschied zu den Möglichkeiten aller anderen Häftlingsgruppen eine echte Chance, freizukommen.
An den Hüftknochen konnte man einen Hut aufhängen
Heinrich Dickmann war nach dem Zusammenbruch des Naziregimes unter anderem als Kreisaufseher der Religionsgemeinschaft im Bergischen unterwegs. Auch von ihm sagt Vossieck, er sei sehr entspannt gewesen, „ähnlich wie mein Großvater“. Der 64-Jährige führt das auf eine „Haltung aus innerer Stärke heraus“ zurück. Zeugen Jehovas – entrückt und nicht ganz von dieser Welt. Aber wie kann das zusammenpassen mit der Schilderung, Brosius habe nach der Befreiung nur noch 42 Kilo gewogen und selbst gesagt, dass man an seinem Hüftknochen einen Hut habe aufhängen können?
In einem rotbraunen Fotoalbum ist auf den vorderen Seiten Brosius’ lila Winkel eingeklebt, den er wie alle Zeugen Jehovas im KZ tragen musste. Das Album enthält dazu viele Buchenwald-Aufnahmen der Alliierten unmittelbar nach der Befreiung – ein Alptraum zwischen Leichenbergen. Dazwischen ein gemaltes Bild des KZ-Tors. Im Begleittext spricht Brosius zwar von „schikanösen Arbeiten“ und grausamen Todesfällen, beschreibt jedoch sich selbst als „körperlich Ausgeraubter, aber in Jehova und in seinem Geist Gestärkter“. In einem Brief an seine Frau schrieb er aus Buchenwald: „Ich teile Dir mit, dass ich für alle Zeiten Bibelforscher bin und bleibe.“ Seine Tochter erklärt den Sinn dieser Zeilen: „Meiner Mutter hatten sie gesagt, dass er seinem Glauben abschwört.“
Als Brosius das KZ im Frühsommer 1945 nach acht Jahren verlassen konnte, musste er seine Frau und die beiden Töchter von Verwandten im Erzgebirge wieder zurück ins Bergische Land holen. Auf der Rückfahrt hielt er noch einmal in Buchenwald an. „Die Leichen waren noch da“, erinnert sich Eichhorn. „Der Anblick war sehr, sehr schlimm.“
Rachegedanken oder auch nur das Beharren auf irdischer Gerechtigkeit hatten dennoch offenbar keinen Platz in der Gedankenwelt des Verfolgten. „Das Richten über Menschen überlassen wir dem Schöpfer“, sagt Jephta Vossieck. In einem offenen Brief, mit dem die Zeugen Jehovas im Juni 1937 auf ihre Verfolgung in Nazideutschland hinweisen, heißt es: „Alle weltlichen Machthaber vertreten irgendeine Religion, und bewusst oder unbewusst nehmen sie eine Stellung gegen Gott und sein Königreich ein.“
Hochzeit mit dem Sohn des besten Lagerfreundes ihres Vaters
Dafür war der Zusammenhalt untereinander im KZ groß. Vielen sicherte das dort das Überleben. Zu den anderen Häftlingen gab es kaum Verbindungen, die Zeugen Jehovas wurden meist separiert, um nicht immer weiter missionieren zu können. Eine Flucht lehnten sie ab, politischen Widerstand auch.
Den Glaubenstraditionen in der Familie konnte die erlittene Verfolgung nichts anhaben. Als Erwachsene heiratete Ingeborg Eichhorn den Sohn des besten Lagerfreundes ihres Vaters. Wenn sie heute ein Vermächtnis ihres Vaters benennen sollte, dann dieses: „Auch die fünfte Generation der Familie zählt zu den Zeugen Jehovas.“