Der Mann, der die Mauer öffnete
28 Jahre lang stützte Stasi-Offizier Harald Jäger die SED. Doch am 9. November 1989 tat er das einzig Richtige.
Berlin. Manchmal hat er sie noch in den Ohren, die Sprechchöre: "Tor auf, Tor auf!" aus tausenden Kehlen. Dann sieht er vor seinem geistigen Auge die verstörten Gesichter seiner Grenzsoldaten. Er spürt wieder die Nervosität, die ihm die Kehle zuschnürt, als er herunter zur Straße geht - und hört sich selbst, wie er Geschichte schreibt: "Macht den Schlagbaum auf!"
Es ist der 9. November 1989, als Stasi-Oberstleutnant Harald Jäger den Grenzübergang Bornholmer Straße öffnet - trotz seiner Angst. Er ahnt, dass er gerade den letzten Stein herauszieht. Dass er das System zum Einsturz bringt, dem er 28 Jahre lang gedient hat.
Harald Jäger hat eine Bilderbuch-Karriere an der Grenze hinter sich. Mit 17 verpflichtete er sich bei den Grenztruppen, bejubelte Monate später den Bau des "antifaschistischen Schutzwalls", der Mauer, und wurde 1964 Passkontrolleur, als Stasi-Mann. Passkontrolleure waren alle bei der Stasi.
"Ich war überzeugt davon, auf der guten Seite zu stehen", sagt er heute. Doch je höher Jäger die Karriereleiter erklomm, desto mehr wuchsen auch seine Zweifel an den Fähigkeiten der SED-Spitze. Besonders an jenem 9. November: Jäger macht gerade in der Grenzposten-Baracke Pause, als er Schabowskis berühmte Worte zu den Privatreisen ins Ausland hört: "sofort, unverzüglich". "Was redet der denn da für’n Mist?", entfährt es ihm, der an diesem Abend das Kommando an der Bornholmer Straße hat. Jäger rennt zum Telefon, ruft seinen Vorgesetzten Oberst Ziegenhorn an. Der wiegelt ab: "Der hat nur dummes Zeug geredet."
Doch das "dumme Zeug" mobilisiert die Berliner. Gegen 20.30 Uhr sind schon gut 100Leute da. "Die fühlten sich jetzt natürlich veräppelt." In der Ferne sieht Jäger, wie proppevolle Straßenbahnen heranrollen. "Da war mir klar, dass es ernst wird."
Er löst stillen Alarm aus: Die gesamte Besatzung des Grenzübergangs rückt nun an - und kommt kaum durch. Als die ersten gegen 21 Uhr ankommen, stauen sich die Trabis schon hunderte Meter.
Nach dem X-ten Anruf bei dem genauso ratlosen Oberst Ziegenhorn kommt gegen 21.30 Uhr endlich eine Anweisung. Die größten Unruhestifter dürfen raus, kriegen aber einen Stempel auf ihr Passfoto. Was sie zunächst nicht wissen: Der Stempel bedeutet, dass sie nicht wieder einreisen dürfen. Die sogenannte Ventillösung ist aber keine. "Dadurch wurde der Druck noch schlimmer", sagt Jäger. Auch auf der Westseite. Als eine junge Mutter nicht zurückdarf, bricht sie in Tränen aus: "Mein Kind ist doch drüben!" Harald Jäger beendet den Irrsinn: "Lasst sie wieder einreisen - alle."
Er weiß, dass er damit gegen Befehle verstößt und versucht ein letztes Mal, sich an die Vorschriften zu halten. Anruf bei Oberst Ziegenhorn: "Wir können das nicht mehr halten." Jäger will auf keinen Fall die NVA (Armee) alarmieren, weil er fürchtet, dass es dann zu Gewalt kommt. Er will Rückendeckung für eine Grenzöffnung, doch die bekommt er nicht. Er ist auf sich gestellt. Und trifft eine einsame Entscheidung.
Seine letzten Anweisungen erteilt er wie in Trance, sieht, wie die Schranke hochgeht, hört "diesen Jubel, den man nicht beschreiben kann" und beobachtet, wie sich seine Grenzer zurückziehen. "Einige haben hemmungslos geweint." Harald Jäger aber meldet Oberst Ziegenhorn Minuten später seinen Befehlsverstoß. Harald Jäger: "Er schwieg. Dann sagte er: ,Ist gut, mein Junge’."