Hochseilartist Nik Wallenda schafft Doppel in Chicago
Chicago (dpa) - Er hat es tatsächlich geschafft. Der Hochseilartist Nik Wallenda hat einmal wieder die Welt in Atem gehalten und zwei aufsehenerregende Drahtseilkunststücke über den Dächern von Chicago vollbracht.
Zuerst ging der 35-Jährige auf einem Stahlseil bergauf, dann ging er geleitet durch Rufe seines Vaters mit verbundenen Augen vom Dach eines Wolkenkratzers zu einem anderen - alles in etwa 200 Metern Höhe.
„Ich musste mich zusammenreißen, weil ich in Gedanken schon beim zweiten Lauf war“, sagte er. „Ich musste mich wirklich konzentrieren und den ersten Lauf durchbringen. Irgendwann habe ich mir gesagt: Nik, konzentriere Dich und bringe Deinen Hintern da heil rüber.“
Die Aktion war perfekt vorbereitet. Die Seile, etwa zwei Zentimeter dick, waren mit Dutzenden Halteleinen verspannt. Eine Spezialbeschichtung sollte dafür sorgen, dass sich kein Eis auf dem Stahl bildete. Monatelang hatte Wallenda trainiert, allerdings im warmen und gemütlichen Florida. In Chicago fröstelten in dieser Novembernacht sogar die Zehntausenden Zuschauer bei nur ein paar Grad über Null.
Und dann der Wind. Vom gewaltigen Michigansee kann immer eine eiskalte und vor allem plötzliche Böe durch die Straßenschluchten jagen. „Mich reizte dieser Titel „Windy City“. Eine windige Stadt ist doch perfekt für einen Hochseilartisten“, sagte er nach dem Lauf. „Ich habe dann gelesen, dass man Chicago aus politischen Gründen „die windige Stadt“ nannte, was für eine Enttäuschung. Aber was soll's, Titel ist Titel!“
Wallenda steht auf dem Drahtseil, seit er zwei ist. Im Grunde noch länger, denn seine Mutter turnte noch da oben, als sie mit ihm im sechsten Monat schwanger war. Immer wieder hat er Schlagzeilen gemacht. So spazierte er vor gut zwei Jahren über die Niagarafälle und im vergangenen Jahr über einen Teil des Grand Canyon. Und erst im August legte er in Hamburg in fast 70 Metern Höhe mehr als 400 Meter zurück - allerdings in Hamburg im Bundesstaat New York.
Der 35-Jährige ist noch ein anderer Künstler - der Vermarktung. Auf dem Seil bergauf, mit verbundenen Augen, zwischen Hochhäusern - alles schon dagewesen. Aber nie in der Dimension, wie er es jetzt gemacht hat, nie so hoch, nie so steil, nie unter solchen Wetterbedingungen. Und das alles ohne jede Sicherung. Eine Schlaufe am Drahtseil, wie er sie über den Niagarafällen noch hinter sich herzog, gab es diesmal nicht. Und bei einer Höhe von 200 Metern hätte er nicht die geringste Chance gehabt. Der Sturz hätte etwa fünf Sekunden gedauert.
„Wie geht's, Weltpresse“, begrüßte er nach dem Lauf die versammelten Journalisten. „Ohne Euch wäre ich nicht das, was ich heute bin“, sagt er den Reportern und genießt die Blitzlichter wie er vorher das Händeschütteln beim Bad in der Menge genossen hatte. Er ist Zirkuskünstler und er braucht Publikum.
Das liegt offenbar in der Familie: „Wir sind seit 200 Jahren Artisten, in siebter Generation, meine drei Kinder in der achten. 15 Mitglieder meiner Familie sind auf dem Seil“, sagt er. Eine Zahl erwähnt er nicht: Schon sieben Wallendas starben, als sie abstürzten. Auch sein Urgroßvater, der in Magdeburg geborene Karl Wallenda. 1978 stürzte er zwischen zwei Hochhäusern in den Tod. Er war 73.
So etwas soll Nik nicht passieren, schon aus Verantwortung für seine Familie. „Wenn meine Frau heute sagt „Hör' auf!“, dann höre ich auf. Jetzt!“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa. Trotzdem träumt er noch davon, einen gut 300 Meter langen Langstreckenmarsch auf dem Seil in fast 200 Metern Höhe zu absolvieren, genau wie sein Urgroßvater 1973. „Im Grunde sind solche Aktionen aber egal“, sagt er auch. „Ob nun an einem spektakulären Ort oder nicht, ob in 100 oder 10 000 Fuß Höhe - wenn ich abstürze, bin ich tot.“