Interview mit dem Mönchengladbacher Familienrichter Dr. Walter Röchling - ,„Kindeswohl geht vor Elternrecht“

Dem Mönchengladbacher Familienrichter Walter Röchling gehen die Pläne der Justizministerin zum Schutz von Kindern vor ihren Eltern nicht weit genug. Die Gerichte sollten früher eingreifen dürfen.

<strong>Düsseldorf. Als kürzlich die Misshandlung und Tötung von Kindern durch ihre Eltern die Schlagzeilen beherrschten, verwies Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) darauf, dass gesetzgeberische Maßnahmen bereits eingeleitet seien. Wir sprachen darüber mit einem Praktiker, dem Mönchengladbacher Familienrichter Dr. Walter Röchling, der auch Honorarprofessor an der Hochschule Niederrhein ist. Herr Röchling, Sie haben die Gesetzespläne in der juristischen Fachpresse kritisiert. Warum?Röchling: Die politischen Absichten sind zu begrüßen. Nur: Um Kinder bei Gefährdungen durch ihre Eltern, bei Verwahrlosung, Vernachlässigung, Missbrauch oder gar Tötung, früher, sicherer und gezielter zu schützen, bedarf es erweiterter rechtlicher Möglichkeiten für die Gerichte. Sie müssen früher - und zwar in Bezug auf die Eltern verpflichtend - auf elterliches Fehlverhalten reagieren können. Nach dem Gesetzentwurf soll doch genau hier die Verbesserung eintreten: Man will die Möglichkeit schaffen, früher, schneller und präziser zu handeln.Röchling: So die Absichtserklärungen der Politik. Fakt ist aber, dass es in der Begründung zum Gesetzentwurf ausdrücklich heißt, dass die Eingriffsschwelle eben gerade nicht herabgesetzt werden soll. Das Elternrecht bleibt erklärtermaßen unangetastet. Was halten Sie von dem sogenannten Erziehungsgespräch, in dem das Familiengericht Eltern, Jugendamt und gegebenenfalls auch das Kind an einen Tisch bringen soll, um den Eltern den Ernst der Lage vor Augen zu führen?Röchling: Viel und wenig. Viel in dem Sinne, als dieses Gespräch schon heute vom Gesetz her gefordert ist und von den meisten Familienrichtern - selbstverständlich auch von mir - geführt wird, bevor es zu einer gerichtlichen Maßnahme kommt. Wenig in dem Sinne, als die vorgesehene Neukonzeptionierung des Erziehungsgesprächs die Verbesserung des Kinderschutzes keinen Zentimeter voran bringt.

"Da gibt es beratungs-resistente Eltern, die Schulbesuche für überflüssig halten."

Aber ist ein Erziehungsgespräch nicht doch eine gute Sache, um gemeinsam praktikable Lösungen für das gefährdete Kind zu finden?Röchling: Politiker und Familienrichter leben offensichtlich in verschiedenen Welten: Eltern, die wegen Kindeswohlgefährdung zum Familiengericht müssen, haben oft eine Fülle von Gesprächsangeboten und Hilfestellungen vom Jugendamt erhalten, die sie nicht genutzt haben. Häufig handelt es sich bei dieser Klientel um beratungsresistente Eltern, die zum Beispiel Schulbesuche für überflüssig halten. Eltern, die sich nicht darum kümmern, ob das Kind zur Schule geht, die Verletzungen des Kindes beschönigen oder die Ärzte über die wahren Geschehnisse täuschen. Es gibt Eltern, die Aufforderungen, das Erziehungsverhalten zu ändern, für eine unangemessene Einmischung in Elternrechte halten. Und es gibt auch diejenigen, die bei sich selbst nicht an Alkohol und Tabakwaren sparen, während ihre Kinder hungern oder witterungsbezogen unangemessen gekleidet sind. Schließlich sind da auch solche Eltern, die intellektuell minderbegabt oder psychisch krank und daher wenig einsichtsfähig sind. Und was heißt das für das Erziehungsgespräch in diesen Fällen?Röchling: Hier bringt ein Erziehungsgespräch, dem wegen der hoch angesetzten Eingriffsschwelle keine gerichtlichen Maßnahmen folgen können, außer Lippenbekenntnissen erfahrungsgemäß nichts. Ebenso wenig wie die zuvor versuchten Einflussnahmen des Jugendamts. Welche Auswirkungen hat die derzeitige rechtliche Situation auf die Arbeit der Jugendämter?Röchling: Die Auswirkungen der recht hohen Eingriffsschwelle für die Familiengerichte sind auch für die Jugendämter eindeutig negativ: Die Mitarbeiter der Jugendämter sind selbst verunsichert. Für ihren Handlungsansatz ist es doch katastrophal, das Familiengericht einzuschalten, um dann gegebenenfalls vom Richter zu hören, dass ihre Erwartungshaltung oder Vorgehensweise überzogen war. Dieser Umstand ist entscheidend mit dafür verantwortlich, dass die Jugendämter - ungeachtet ihrer Hilfeangebote - spät und leider manchmal zu spät das Gericht anrufen. Sie halten über die Gesetzespläne hinaus einen konkreten gesetzlichen Impuls für notwendig. Wie könnte dieser aussehen?Röchling: Um zügig zu einer klaren Regelung der Verbesserung des Kinderschutzes zu kommen, müsste ein früheres Eingreifen der Familiengerichte bei Kindeswohlgefährdung explizit ermöglicht werden. Kindeswohl muss ganz eindeutig vor Elternrecht gehen. Jeder Tag, den ein Kind leiden muss, ist ein Tag zuviel, und häufig leiden Kinder Wochen, Monate und Jahre! Aber wie sollte dieses frühere Eingreifen aussehen?Röchling: Nehmen wir als Beispiel "hartnäckiges" Schulschwänzen - oft der Beginn einer kindlichen Verwahrlosungskarriere. Den gerichtlichen Sorgerechtseingriffen geht wegen der hohen Eingriffsschwelle in der Regel ein viele Monate währendes Schulschwänzen voraus. Andererseits ist dann ein Gefährdungsgrad erreicht, bei dem nur noch mit schwereren Maßnahmen dem Schulschwänzen definitiv ein Ende bereitet werden kann. Würde das Gericht (bei abgesenkter Eingriffsschwelle) weitaus früher eingeschaltet, könnte zügiger reagiert und früher Einfluss genommen werden. Mit einem frühen Erziehungsgespräch, verbunden mit entsprechenden verbindlichen gerichtlichen Weisungen oder auch mit einer bloß beaufsichtigenden Pflegschaft, also einem weniger schweren Sorgerechtseingriff. Und was halten Sie von einer Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz?Röchling: Auch das wäre hilfreich. Die Familiengerichte könnten dann bei ihrer Abwägung Elternrecht gegen Kindeswohl das Kindeswohl bei ihrer Entscheidung gezielt und vor allem stärker hervorheben und berücksichtigen. Was Behörden und Gerichte tun können

Jugendamt Wenn eine dringende Gefahr für den Jugendlichen besteht und die Entscheidung durch das Gericht nicht abgewartet werden kann, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen. Solche Inobhutnahmen, das heißt kurzfristige Maßnahmen der Behörden, werden jährlich rund 26000 mal angeordnet (siehe Grafik).

Sorgerecht Nach Zahlen des Statistischen Bundesamt kam es im Jahr 2006 in 10764 Fällen zum vollständigen oder teilweisen Entzug des elterlichen Sorgerechts.