Krise: Hurra, wir leben noch!
Gewiss, die Verwerfungen an den Finanzmärkten sind spürbar. Aber lassen wir den Kopf nicht hängen. Es wird schon gut gehen.
Düsseldorf. Mit der Finanzkrise verhält es sich wie mit der Schweinegrippe. Wir wissen, dass es sie gibt, ohne sie selbst so recht begriffen zu haben. Wir hören und lesen von den Opfern, ohne sie selbst zu kennen. Und wir ahnen, dass da Böses vor sich geht. Aber hoffen doch zugleich, dass dieses Böse an uns selbst vorüber gehen wird.
So scheint es ja auch vielen von uns im Krisenjahr 2009 ergangen zu sein. Die Zahlen der neuesten Heitmeyer-Studie bestätigen das: Die Angst wächst, vor allem in der Mittelschicht, jeder Zweite fühlt sich und seine Existenz bedroht. Die Zahl der schon tatsächlich Betroffenen ist deutlich geringer.
Und doch wissen wir, dass der Rückgang des Bruttosozialprodukts auf den Stand von 2005 nicht ohne Folgen bleiben kann. "Kernnormen" unserer Gesellschaft wie Solidarität, Fairness und Gerechtigkeit erodieren schon, ermittelte die Studie. Es gilt mehr und mehr: Rette sich, wer kann.
Wo allerdings schon vorher nichts mehr zu retten war, hatte auch der Pleitegeier nichts zu holen. Der Duden meldete kurz vor Jahresende ein neues Verb: "hartzen gehen". Die Beschreibung einer Existenzform, so knarzig und unbequem wie der Klang des Wortes, zugleich aber schon ein gesellschaftliches Massenphänomen. Kaum noch soziale Hängematte, eher Nagelbrett, zugleich aber ein Segment mit Wachstumspotenzial.
Von Politik und Medien beobachtet und behandelt wie eine fremde Ethnie, ein eigener Orden, durch monatliche staatliche Alimentierung gleichsam geadelt, mit dem Kiosk als Lebensmittelpunkt. Die "Hartz-IV-Ecke" in Duisburg ging durch die Gazetten, ein kleines Paradies aus Trainingsanzug, Flaschenbier und Currywurst.
"Hartzen gehen" also - es werden immer mehr, und wollten wir früheren Meldungen Glauben schenken, müsste nun auch bald die verarmte Frau Schickedanz an der "Hartz-IV-Ecke" vorbeischauen und eine Runde "Kleiner Feigling" schmeißen, um die Stimmung kurzfristig aufzuhellen.
Doch was sich am Rande der Gesellschaft entwickelt, erlebt die Mitte nur als Bedrohung. Fürchteten wir alle noch zu Beginn des Jahres, die Krise werde zur Katastrophe, blieb der ganz große Crash aus. Kein Banker warf sich aus dem Fenster, die Züge fuhren weiter in zuverlässiger Unpünktlichkeit, selbst die Börse ging nach kurzem Schock ihren Geschäften in gewohnter Routine nach. Im September vermutete die "Frankfurter Allgemeine" (FAZ) gar, die Krise selbst sei in der Krise und sah folgerichtig das Land schon "in der Krisenkrise". Es ist Krise, und keiner geht hin?
Keine Frage, die Krise hatte die starken Erwartungen einer medial auf Katastrophen getrimmten Öffentlichkeit weithin enttäuscht. Mit dem feinen Gespür, das die deutsche Kaufmannschaft auszeichnet, wenn es um anderer Leute Geld geht, machte sich das der deutsche Einzelhandelsverband zunutze. "Die Krise macht Weihnachtspause!" lautete die frohe Adventsbotschaft, mit der wir in die vorweihnachtlichen Konsumtempel gelockt werden sollten. Und wie es scheint, ist der Umsatz tatsächlich kaum hinter dem des Vorjahrs zurückgeblieben. Wo blieb da die Krise?
Natürlich war der Konsum schon zuvor in den Rang einer staatsbürgerlichen Pflicht gehoben worden. Wie sollten wir der Krise die Stirn bieten, wenn nicht durch trotzigen Konsum? Jeden Monat warteten die Wirtschaftsredaktionen auf den neuen "Konsumklima-Index", als handele es sich dabei um die moderne Form der Erlösung. Steigt er, wird alles gut. Und er stieg tatsächlich. Was sollte da noch schief gehen?
Die Politik tat ein übriges und suchte vom Rande her die Stimmung zusätzlich zu heben. Und schlug dabei den Tonfall des aufgeregten Bankrotteurs an, der uns damit beruhigen will, dass es den anderen doch noch viel schlimmer gehe. Wir sitzen sozusagen im Ersten Rang und verfolgen die Krise anderenorts wie den dritten Weltuntergang in Roland Emmerichs drittem Katastrophen-Thriller. Die Katastrophen, sie finden stets woanders statt.
Und wie zur Bestätigung erreichten uns dann im November die Nachrichten vom drohenden Staatsbankrott in Dubai. Dass nun auch der schon sprichwörtlich reiche Scheich pleite ist, nahmen wir mit einer merkwürdigen Mischung aus Staunen, Schrecken und Schadenfreude zur Kenntnis. Das ganze "Wunder am Golf" doch nur eine eher landestypische Fata Morgana?
Selbst die in diesen Dingen sonst immer äußerst besorgte und ernste FAZ kalauerte darauf, es wäre wohl an der Zeit, die Aktion "Brot für die Welt" kurzfristig in "Datteln für Dubai" umzuwidmen. Wie ernst ist eine Krise zu nehmen, über die wir solche Scherze machen?
Dabei wissen wir doch, dass die Verpackungskünstler, die ihre faulen Kredite solange verschoben und bündelten, bis niemand mehr deren Werthaftigkeit erkennen konnte, schon wieder fröhlich am Werke sind.
Das Casino läuft weiter, während der Staat bereits den Überblick darüber zu verlieren droht, wie viel Steuergelder dort schon versenkt wurden. Aber irgendwie haben wir das Gefühl, wir seien noch einmal davongekommen. Und beschließen deshalb dieses Katastrophenjahr 2009 mit dem ebenso erstaunten wie erleichterten Ruf: "Hurra, wir leben noch!"